„Kunst entsteht nicht durch das Hinzufügen, sondern durch das Wegnehmen, das Reduzieren“, schreibt Wolfgang Müller, seines Zeichens letztes verbleibendes Mitglied der Band „Die Tödliche Doris“ und einer der Hauptvertreter des „Genialen Dilletantismus“ (Rechtschreibfehler urheberrechtlich geschützt). In der vorliegenden Berlin-Biographie berichtet Müller vorrangig über seine eigenen Erlebnisse in der Mauerstadt der 80er Jahre und das noch dazu in der dritten Person. Dieser Singularis Benevolentiae soll Müller hier aber gar nicht zur Last gelegt werden, denn aufgrund der eigenen untrennbaren Verwicklungen in das Geschehen der 80er in Berlin dient dies wohl zur notwendigen objektivierenden Distanzierung, um von sich selbst Abstand zu gewinnen vielmehr also, als um sich selbst zu historisieren oder glorifizieren. Wolfgang Müller schreibt den Lebensstil - also die Verdienste Berlins für die Subkultur - der in den 80ern in dieser „Insel inmitten der DDR“ kultiviert wurde, vor allem den niedrigen Mieten zu, die dafür sorgten, dass „der Strom der Zuzügler, der hier nicht geborenen, gelernten Berliner, nicht mehr abreißen sollte“. Manche Neu-Berliner zahlten sogar gar keine Miete, da sie die leerstehenden Häuserzeilen der teilweise immer noch zerbombten Stadt einfach besetzten oder besser instand-be-setzten.
Punk: Antriebstoff des deregulierten Kapitalismus
170 besetzte Häuser soll es damals in Berlin gegeben haben, alle ohne Mietvertrag, die meisten aber wohl auch ohne fließendes Wasser oder andere behagliche Errungnenschaften des Kapitalismus, und genau das brachte die wohl kreativste urbane Szene der Welt hervor, dass nämlich Freizeit dadurch geschaffen wurde, dass kein Geld für Mieten verdient werden musste. Und in genau dieser „Freizeit“ lag dann auch das kreative Potential, die Freiheit, endlich Zeit zu haben, auch etwas für sich entwickeln zu können, etwas das außerhalb der Verwertungszwänge des Kapitalismus stand und allein den Zweck erfüllte, keinen Zweck zu haben. Allemal gerechtfertigt erscheinen jedenfalls Müllers Ausritte gegen den Kapitalismus und seine „unsichtbare Zensur, die von der Vorstellung geschützt wird, der Markt regle sich selbst.“ Es gab damals nämlich keine einzige Plattenfirma, die die Bands dieser Zeit unter Vertrag genommen hätte und dennoch entstand eine Kultur, die großteils durch selbstbespielte Audiotapes dennoch eine große Verbreitung fand: Punk! Gleichzeitig wurde aber genau das auch wieder in der materiellen Bedürfnisbefriedigung und Kommerzialisierung wiederverwertet: „Der Begriff `Punk´wurde zum Antriebsstoff eines deregulierten Kapitalismus“, wie Müller weiter schreibt, wurde Punk bald zum „Synonym für die Erneuerungs- und Integrationskraft eines sich verstärkenden und alternativlos bezeichneten Turbokapitalismus“.
Terror der Normativität
Die Liste der Bands und Künstler, die sich damals in Berlin selbstverwirklichten ist ellenlang und deren Namen so illuster und wohlklingend wie der Abgesang auf genau den Zustand, der sie hervorgebracht hatte: Liebesgier, Malaria, Din A Testbild hießen die Bands, Risiko, Shizzo, Exzess die Bars, um hier nur einige der weniger bekannten zu nennen. Wolfgang Müller vergisst natürlich niemals darauf, auch seine eigene Band bei seinen Erzählungen einzubringen, genausowenig, wie er auf andere Minderheiten vergisst, die damals im wilden Berlin eine wichtige Rolle spielten: darunter neben einigen gewichtigen Österreicheren (Brus, Wiener, Export) auch jene Personen, die sich ihre ersten Verdienste für die Bewegungen der Schwulen, Gehörlosen, Blinden etc im damaligen Berlin verdienten. „Immer mehr und mehr sogenannte Faulenzer, Ausgeflippte, Taugenichtse, Freaks, Arbeitsscheue, Verrückte, Gescheiterte, Tagediebe und Armeedienstverweigerer“ siedelten sich in Westberlin an und schufen dort ein Paradies für Ihresgleichen, während in Westdeutschland ein Großteil der jungen Bevölkerung unter dem „Terror der Normativität erdrückt und erstickt“ wurde, wie Müller an einer Stelle bemerkt. Westberlin war ein Testgebiet, eine Zone zur Erprobung der Revolution, die dann unter ganz anderen Vorzeichen im Osten der Stadt wirklich statttfand.
Bierflasche oder Aludose?
Anfangs habe es zwar sehr wohl Spannungen und Konflikte zwischen den sogenannten Linksalternativen und Punks gegeben, aber diese konnten bei einem oder zwei Bieren dann doch friedlich beigelegt werden, schließlich zog man ja am selben Strang oder besser gesagt Bierschlauch. Als sich am 1. April 1980 die Einstürzenden Neubauten gründeten, begann damit wohl auch die Epoche des Übergangs: Skorbut-Blixa schnitt sich seine langen grün gefärbten Haar zu einer Art angewachsenen struppigen russischen Fellmütze und Berlin bekam damit endlich ein Aushängeschild und modernes Image, womit man auch im Ausland Werbung für ein neues, besseres Westdeutschland machen konnte. Endlich war der Mief der Adenauerjahre verpufft und Deutschland erfuhr einen Modernisierungsschub, der nicht zuletzt durch den langen Marsch durch die Institutionen der Ex-68er in den Achtzigern erstmals Früchte trug. Der Kampf zwischen Bierflasche und Aludose markierte die Demarkationslinie der ideologischen Grundwerte der beiden gegensätzlichsten Lager, Linksalternative und Punks, aber am Ende setzte sich dann doch die Pfandflasche durch und die Grabenkämpfe fanden ihr Ende. War das schon alles?
„Haste mal ne Mark?“
Wolfgang Müllers Blick zurück ist so detailreich, dass er sogar den Erfinder des wohl bekanntesten Spruchs der 80er, „Haste mal ne Mark?“, ausgräbt oder das Tali-Kino, indem derselbe Blixa, der oben schon erwähnt wurde, seine ersten Lines als „Diva hinter dem Tresen“ zog. „Blixa war damals Kassenfräulein und Putzfee in einem“, zitiert Müller Hans Hütt, „wir nannten ihn Blixa Skorbut, weil er so dürr war.“ Müller definiert an einer Stelle aber auch das, was damals in Westberlin ein ganz „normaler Tag“ war, nämlich ein sorgenfreies Leben in einer Art Kultur- und Freizeitpark. Natürlich kommen auch Celebrities wie Nan Goldin oder David Bowie in Müllers Berlin als Statisten vor, bestechend sind aber vor allem Müllers Kunstszenekenntnisse, etwa wenn er Zazie de Paris ausgräbt, die vor allem durch ihre Worte: „Man bekommt im Leben ein Geschlecht zugewiesen und reist ins andere“ auch heute noch bekannt ist und damals noch als Travestiekünstlerin auftrat. Müller stellt in diesem Kontext auch gerne den Zusammenhang zum Berlin der Zwanziger und Dreißiger her, mal zu Brecht, mal zur Dietrich, aber viel zu oft eigentlich spricht er über die 90iger und Nullerjahre des 21. Jahrhunderts, denn wenn man sich den Untertitel („Subkultur Westberlin 1979-1989“) genau ansieht, müsste man bei dieser Arbeit eigentlich fast schon von „Thema verfehlt“ sprechen. Natürlich könnte man zur Verteidigung die vielzitierten Kontinuitäten („Loveparade“) anführen, aber dennoch wird auf den fast 600 Seiten Text nicht ausschließlich von der Subkultur Westberlins und schon gar nicht nur von den 80ern gesprochen resp. geschrieben. Die ProtagonistInnen der damaligen Szene litten gewissermaßen ohnehin unter einem „Zwang zum Authentischen“, wie es Rainald Goetz ausdrückt, aber natürlich war auch sehr viel Performance dabei, wie Müller nachschiebt: „In den frühen Achtzigerjahren ist es kaum möglich in Westberlins bizarr-unwirklichem Umfeld irgendwie aufzufallen. Zu oft ist unentscheidbar, was hier Alltagsrealität ist und was eigentlich eine Performance sein soll.“ Bei Wolfgang Müllers Westberlin-Biographie ist man sich darüber zumindest sicher, denn durch seine Memoiren in Buchform hat „Doris“ nun endlich einen Körper bekommen.
Wolfgang Müller
Subkultur Westberlin 1979-1989
Philo Fine Arts, Hamburg 2013
ISBN 9783865726711
Gebunden, 600 Seiten, 24,00 EUR
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-05-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.