Für viele war die Überraschung groß, als Herta Müller im Oktober 2009 zur Literaturnobelpreisträgerin gekürt wurde, nicht zuletzt für die Autorin selbst. Seither stürmt ihr jüngster Roman "Atemschaukel" die Bestsellerlisten, und darüber gerät ein wenig in Vergessenheit, dass mit dem nominell wichtigsten Literaturpreis der Welt auch eine sehr eigenständige und eigenwillige Lyrikerin geehrt wurde. Auf diesen Umstand sei hier exemplarisch anhand ihres Gedichtbandes "Im Haarknoten wohnt eine Dame" aus dem Jahre 2000 eingegangen. Den Einband ziert eine aus dunkelgrauem Papier ausgeschnittene Figurine im Handstand, die in Verbindung mit dem surrealistischen Titel schon einen Vorgeschmack gibt auf das, was den Leser beim Aufschlagen erwartet: eine schon rein visuell raffinierte Kombination aus Gedichten und modernen Scherenschnittcollagen, die ebenfalls von der Dichterin stammen und eine athmosphärisch einmalige Symbiose mit den Versen eingehen. Diese kommen optisch daher wie kleine Erpresserbriefe: aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Worte und Wortteile werden ganz neu kombiniert und aneinandergeklebt. Das ist nicht nur eine originelle Darreichungsform für die Müllersche Lyrik, es unterstreicht gleichzeitig den Charakter des Dunklen, Unwägbaren, der den Texten innewohnt, die jedoch auch immer zwischen Tragik und leiser Komik changieren. Herta Müllers Trauma einer unangepassten Existenz unter dem Regime des rumänischen Diktators Ceauşescu und seinem allgegenwärtigen Geheimdienst Securitate findet auch hier seine Verarbeitung: "als sie Herrgott schrie/und Lenin vergaß/und ihre Füße auf den Rücken nahm/aus dem blöden Gras/kam sie in eine Anstalt". Das politische Element ist in den Texten stets spürbar, verkommt jedoch nie zu platter Anklage- oder Betroffenheitslyrik, sondern erscheint vielmehr den Gedichten als schleichendes Gift eingegeben, die in ihrer surrealen Anmutung offen bleiben für die persönliche Interpretation des jeweiligen Rezipienten. Rätselhaftes wird mit ungezwungener Selbstverständlichkeit postuliert, ohne verschwurbelte Geheimnistuerei - geradeso als beobachte und spreche die Verfasserin aus der Position eines Kindes heraus: "der Leutnant sagt/mach keinen Wirbel/die Pistole ist im Anzug/Mutter sagt auch das Gewitter/wenn es kommt im blauen Lack//in Vaters Kopf/der Star hat dieses Jahr/den Schnee verbrannt/und wer ist weggerannt/mach kein Tamtam". Das häufig wiederkehrende Personal der Müllerschen Verse - Vater und Mutter, zwei oder drei Männer (die stets für Überwachung und Bedrohung zu stehen scheinen), Pförtner/Hausmeister/Portier, Frisör und verschiedene Musiker - korrespondieren auf oft bänkelsang- und kinderliedhafte Weise mit dem großen Thema des Buches: der verunsicherten Existenz, die ihr Heil in der Flucht, der Auswanderung, im Selbstmord oder in der inneren Emigration sucht. "Im Haarknoten wohnt eine Dame" ist so auch ein Buch des Abschieds, in dem stets die Untertöne von erlittener Gewalt und Willkür mitschwingen: "der Herr Sterr heißt Ferdinand/macht den Rücken rund/schließt den Mund/springt vom Fensterrand/hält die Richtung schief/macht den Gehsteig tief". Dazu ist eine leichte Variation der Figurine vom Einband abgebildet - hier steht sie ganz deutlich nicht auf den Händen, sondern fällt. Die Gedichte sind allesamt kurz bis sehr kurz, oft werden auf spielerische Art Reime und Assonanzen verwendet. Es gibt kein Verzeichnis, keine Seitenzahlen für die knapp einhundert Text-Bild-Kunstwerke, bei deren Entstehung wohl auch eine Interaktion zwischen dem vorgefundenen Material und dem vorher Erdachten eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben dürfte. Die Tatsache, dass die Schere, das Symbol der erlittenen Zensur unter Ceauşescu, hier zum Instrument der dichterischen Schöpfung gemacht wird, mag man als delikate Rache der Autorin am politischen System empfinden - ironischer und sinnfälliger hätte man den Gedichtband kaum gestalten können. Das Buch ist inzwischen leider vergriffen, derzeit kursieren nur einige wenige antiquarische Exemplare, für die bis zu stolze 300, Euro verlangt werden. Es würde allerdings nicht verwundern, wenn im Zuge des aktuellen Nobelpreisrummels auch dieser schon rein optisch wunderschöne Gedichtband eine baldige Neuauflage erfahren sollte. Zu wünschen wäre es allemal. Bis dahin sei auf den strukturell ähnlich gestalteten Band "Die blassen Herren mit den Mokkatassen" (Hanser Verlag, München, 2005) verwiesen, der für 17,90 Eur noch im Handel ist.
[*] Diese Rezension schrieb: Marcus Neuert (2009-12-06)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.