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Erich Mühsam - Unpolitische Erinnerungen
Buchinformation
Mühsam, Erich - Unpolitische Erinnerungen bestellen
Mühsam, Erich:
Unpolitische
Erinnerungen

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(Bücher frei Haus)

Erich Mühsam - ein Leben in der Bohème

Erich Mühsam: Intellektueller, Bohémien, Anarchist, Mitglied der Münchner Räterepublik, kritischer Literat, und eines der ersten (prominenten) Opfer des Nationalsozialismus gehört sicher zu jenen Persönlichkeiten des anarchistischen Spektrums, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. 2000 wurden erneut seine "Unpolitischen Erinnerungen" im Nautilus-Verlag in einer bemerkenswert schönen Ausgabe verlegt. Zugegeben, den Gesetzen des Marktes entsprechend, laut denen das Neueste auch immer das Beste darstellt, ist dieses Buch nicht mehr ganz taufrisch, um es einer Rezension zu "unterziehen". Besonders dann, wenn man/frau bedenkt, dass es die "Unpolitischen Erinnerungen" - trotz der enorm schwierigen Nachlasssituation - auf immerhin 14 Auflagen gebracht haben. Für Erich Mühsams „mühsame“ Publikationstätigkeit - diesen Kalauer konnte ich mir nicht verkneifen - ein Bestseller; wenn auch nicht zu Lebzeiten.

Die Unpolitischen Erinnerung - wirklich unpolitisch?

Erich Mühsam publizierte seine "Unpolitischen Erinnerungen" als Fortsetzungs"roman" im Unterhaltungsblatt der bürgerlichen Vossischen Zeitung und wurde genötigt, weitgehend das für ihn Politische auszusparen. Die Anlehnung des Titels an Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" ist evident und ist sicher nicht durch die gemeinsame Heimat Lübeck und die gelegentlichen Begegnungen in München motiviert… Konzeption und Struktur der Texte lassen auf eine intendierte Buchpublikation schließen. So bilden das erste und das letzte Kapitel ("Soll man Memoiren schreiben?" und "Rückblick-Ausblick") eine Art Rahmen für die anderen Kapitel, deren roter Faden - und roter Faden darf bei Mühsam durchaus politisch verstanden werden - die Bohème und die Kaffeehauseskapaden von Erich Mühsam sind. Die zahlreichen Anspielungen auf das Politische in Form von expliziter Selbstzensur und deutlichen Aussparungen entlarven die Zensur. Durch das Nichtgesagte kommt das Politische seiner Ansichten durch die Hintertür wieder herein. Ein Beispiel. Erich Mühsam beschreibt seine Beziehung zu Gustav Landauer: "Welche Wege mich dieser große Denker und Mensch geführt hat als in kurzer Zeit die persönliche, bald sehr nahe menschliche Beziehung sich auswirkte, wieviel Grund ich habe dem Freunde, der mein Lehrer war, dankbar zu sein, davon zu sprechen würde sofort in Gebiete führen, die hier nicht berührt werden sollen. (Mühsam 2000: 30). Im zeitgemäßen wirtschaftlichen Newspeak gesprochen: Die Aussparung als konsequentes product placement seiner politischer Ideen.

Auch der schon angesprochene Titel dieses Werkes verfolgt diese Doppelstrategie. Einerseits explizit auf das Unpolitische hinzuweisen, erweckt natürlich das Interesse am politischen Mühsam und auch der oben angesprochene Bezug zu Thomas Mann ist nicht nur Tribut an ein bürgerliches Publikum auf der Suche nach gehobenem Feuilleton und espritreicher Unterhaltung. Ein Blick in die "Geschichte der deutschen Literatur" von Hans Gerd Rötzer könnte in dieser Frage ganz aufschlussreich sein. Ich zitiere Rötzer: "Nach seinem [Manns] humanistischen Selbstverständnis und bewußt in der Tradition verankert, sah er zunächst einen Gegensatz zwischen Geist und Politik, zwischen Kultur und Zivilisation; (…)" (Rötzer 1992: 279) Dass Mühsam diese Meinung nicht vertrat und keinen Widerspruch zwischen Geist und Politik sah, braucht nicht eigens erwähnt zu werden. Wenn wir dem Nachwort von Hubert van der Berg Glauben schenken, dann war die Bohème durchaus ein politisches Konzept: "War es Mûhsams Vorstellungswelt nach dem Ersten Weltkrieg vor allem die Arbeiterklasse, der in einer sozialen Revolution eine Protagonistenrolle zukam, so war es kurz nach der Jahrhundertwende noch die Boheme, die Mühsam als die genuin revolutionäre Alternative zur bürgerlich-imperialen Ordnung des Kaiserreichs verstand." (Mühsam 2000: 207).

Müham, Kraus und Wien

Ausgerechnet Mühsams ausgedehnter Aufenthalt in Wien (1906) soll jener gewesen sein, der zur Gänze unpolitisch war. Ich zitiere: "Ohne [Alfred] Kubins Abreise hätte ich mich jedenfalls unter seine Fittiche gegeben, und meine unpolitischen Erinnerungen aus Wien - der einzigen Station meiner Fahrten übrigens, die mir nur unpolitische Erinnerungen hinterlassen hat - wären vermutlich durch ein anderes Personenverzeichnis gekennzeichnet." (Mühsam 2000: 99). Diese Aussage ist mit Vorsicht zu genießen, darf man nicht vergessen, dass Mühsam (a) in der Fackel von Karl Kraus durchaus Politisches publizierte (b) später - ab 1908 - durch die Harden-Affaire eine intensive Feindschaft mit Karl Kraus verband, die seine Erinnerungen an das Jahr 1906 sicher unter einem anderen Aspekt erscheinen lassen.

Mühsams Understatement und Selbstzensur erlauben interessierten LeserInnen den politischen Mühsam entdecken. Mühsam selbst gibt aber auch Einblick in seine vielschichtigen Beziehungen zu den progressiven literarischen Kräften kurz nach der Jahrhundertwende nehmen. Um die wichtigsten/bekanntesten zu nennen: Franziska zu Reventlow, Else Lasker-Schüler Frank Wedekind, Peter Hille, Gustav Landauer in München, Karl Kraus, Egon Friedell und Peter Altenberg in Wien (u.v.m.) . Das Buch ist dann auch eher mit dem Film "Celebrities" von Woody Allen vergleichbar - thematisch eine Fortschreibung der Mühsamschen KünstlerInnenbohème mit anderen Mitteln. Nicht das Werk der einzelnen AutorInnen steht im Vordergrund, sondern das Enge Beziehungsgeflecht der einzelnen Menschen untereinander, wer mit wem wo trank, wer mit wem was hatte (obwohl das sehr dezent gehalten ist). Dieses Panoptikum kristallisiert sich zu einem wichtigen Dokument für literarische Kanonbildung respektive die Literaturgeschichte dieser Zeit. Ironie des Schicksals: Mühsam ist lange Zeit selbst aus diesem literarischen Kanon ausgeschlossen worden und wird es teilweise noch immer. In den beiden von mir benützten Literaturgeschichten, die "Geschichte der deutschen Literatur" von Rötzer einerseits und die "Daten deutscher Dichtung" von Frenzel andererseits, findet Mühsam nicht einmal eine namentliche Erwähnung. Das zweite Werk wurde mir als Standardwerk empfohlen…

Zahnloser Mühsam

Nicht ganz unrecht hat Christian Schwandt von der Berliner Zeitung wenn er Folgendes behauptet: "Die "Unpolitischen Erinnerungen" leiden ein wenig an ihrer Ehrpusseligkeit und Artigkeit. Im Gegensatz zu Emil Szytta, der in seinem 1923 erschienenen "Kuriositäten Kabinett" über Skandale, Affären, Exzesse, "seltsame Begebenheiten" und "sexuelle Merkwürdigkeiten" der Boheme berichtet, vermeidet Mühsam alles Hässliche und in irgendeiner Form Anstößige. Andererseits fehlt dem Buch die Schärfe und intellektuelle Durchschlagskraft, wie sie zum Beispiel die Erinnerungen seiner unmittelbaren Zeitgenossen Oskar Maria Graf ("Wir sind Gefangene") oder Franz Jung ("Der Weg nach unten") haben."

Ich kann mich diesem Gedanken nur anschließen, zumal die Briefe von Erich Mühsam genau das von Schwandt Eingeforderte enthalten, was aber nicht den Wert der "Unpolitischen Erinnerungen" schmälern soll. Sie stellen ein wunderbares Werk für den Einstieg in Mühsams Gedanken,- und Lebenswelt dar.

Erich Mühsam
Unpolitische Erinnerungen
Mit einem Nachwort von Hubert van den Berg
Gebunden mit Schutzumschlag,
illustriert, 240 Seiten,
Nautilus, 2000
ISBN: 3-89401-356-7



[*] Diese Rezension schrieb: Thierry Elsen (2004-08-18)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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