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Karl Philipp Moritz - Anton Reiser
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Moritz, Karl Philipp:
Anton Reiser

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(Bücher frei Haus)

Deutet man die Anzeichen recht, scheinen Buch und Autor seit einiger Zeit wieder zunehmend auf Interesse zu stoßen. Karl Philipp Moritz (1756 – 1793) nannte sein Hauptwerk „Anton Reiser“ einen psychologischen Roman, doch handelt es sich tatsächlich um seine Autobiographie bis zum Alter von etwa zwanzig Jahren. Darin zeichnet er die Entwicklungslinien nach, seine Herkunft, die Milieus seiner Kindheit und Jugend, vor allem auch die zahlreichen Verletzungen und wie er sie verarbeitet oder nicht verarbeitet hat. Zwar ist das Buch auch von historischem Interesse, es führt uns recht farbig das alte Deutschland vor Augen, jenen Agrarstaat vor einem Vierteljahrtausend mit seinen noch kleinen Städten, seiner ständisch gegliederten Gesellschaft, einem sehr archaischen Schulwesen. Von alledem hat sich kaum etwas erhalten, insofern hat die Lektüre durchaus ihren exotischen Reiz. Doch das ist nicht die Hauptsache …

Die Bedeutung von Moritz liegt vielmehr darin, dass er der erste wahrhaft psychologische Schriftsteller im deutschen Sprachraum war und gerade auf diesem Gebiet bis heute aktuell geblieben ist. Er analysierte bereits die Wechselwirkungen sozialer, kultureller und individuell-persönlicher Faktoren und die sich aus ihnen ergebenden Prozesse. Dabei hatte er einen scharfen Blick für Strukturen – und es sind gerade die strukturellen Parallelen, die bis in die Gegenwart reichen und uns Moritz als einen modernen Schriftsteller erscheinen lassen.

Karl Philipp Moritz kam von weit unten und stieg relativ weit auf, doch nicht leicht und geradlinig, sondern mit vielen Brüchen, Krisen und auch glücklichen Zufällen. Geboren in Hameln verbrachte er Kindheit und Jugend zum größten Teil in Hannover. Sein Vater war Musiker und Schreiber beim Militär des Kurfürstentums. Der junge Moritz lernte das unbedingt Notwendige in einer Schreibschule und wurde dann Hutmacherlehrling in Braunschweig. Der Meister schickte ihn nach einiger Zeit zurück und Moritz gelang es, in Hannover das Gymnasium besuchen zu dürfen. Seine Eltern zogen zur gleichen Zeit ohne ihn aufs Land, von da an war er im Wesentlichen für sich selbst verantwortlich. Er bezog ein Stipendium, logierte mal hier, mal da, aß an Freitischen. Insgesamt war seine materielle Lage miserabel und sowohl sein Bildungsgang wie seine seelische Entwicklung verliefen chaotisch. Um 1776 beginnt er durch das nördliche und mittlere Deutschland zu wandern. Er will Berufsschauspieler werden, scheitert bei einer Reihe von Versuchen, studiert Theologie in Erfurt. Damit endet der Roman. Später wird der Autor in Berlin Lehrer, macht Reisen nach England und Italien, lernt Goethe gut kennen und wird durch Protektion und Fürsprache des Weimarer Hofs Professor an der Berliner Akademie der Schönen Künste, schreibt gelehrte Werke. Moritz stirbt als Hofrat schon mit knapp siebenunddreißig.

Sein ursprünglich geringer sozialer Status und die damit verbundenen Schwierigkeiten, eine seinen Begabungen angemessene Bildung zu erhalten, das ist das große Hauptthema im „Anton Reiser“. Dazu tritt ein arg gestörtes Eltern-Kind-Verhältnis. Beide zusammen bewirken ein mangelndes Selbstwertgefühl, das immer wieder thematisiert wird. Reiser, das Alter Ego von Moritz, flüchtet sich in „Affektation“ – ein häufig vorkommender Begriff – und sucht Kompensation in der idealen Welt des Theaters. Mit dieser unzureichenden Motivation muss er bei fehlenden weiteren Voraussetzungen zwangsläufig als Schauspieler scheitern. Daran ändert auch die ausgeprägte Empfindsamkeit nichts, die bei Moritz offenbar nicht nur ein zeittypisches Phänomen, sondern tief in der Charakterstruktur begründet ist. Wie die Affektation zum Schauspiel führt, so die Empfindsamkeit zur Dichtung, zur Lyrik – mit ähnlich unbefriedigendem Ergebnis. Moritz analysiert diese Fehlentwicklungen breit und schonungslos und leitet daraus eine allgemeine ästhetische Theorie ab.

Der zweite wesentliche Motivstrang der Erzählung ist die heute so kaum noch vorstellbare starke Religiosität dieser Zeit und die allmähliche Ablösung von ihr. Moritz wuchs in einer Welt des Pietismus auf, sein Vater war überdies Anhänger der aus Frankreich stammenden asketisch-mystizistischen Sekte der Quietisten. Für den jungen Moritz bestand, sobald er denken konnte, ein enges Verhältnis zu einem persönlichen Gott, dem er unmittelbar Rechenschaft abzulegen hatte, nicht bloß über die Taten, sondern auch über alle Seelenregungen. Er beginnt sich früh zu erforschen und prüft, wann er aufrichtig ist und wann er bloß posiert oder sonst Opfer seiner Einbildungskraft ist. Auf diese Weise erfolgt gewissermaßen die Geburt der Psychologie aus dem Geist eines pietistischen Protestantismus. Allmählich gewinnt die Psychologie das Übergewicht gegenüber der Religion und am Ende ist Moritz ein bürgerlicher Schriftsteller der Aufklärung geworden.

Auf die im Buch enthaltenen zahllosen scharfsinnigen Gedanken und Einsichten kann im Rahmen dieser kurzen Einführung nicht näher eingegangen werden. Es ist insoweit eine wirkliche Fundgrube für den psychologisch interessierten Leser. Moritz geht immer vom konkreten Erleben aus und unterzieht es dann einer Kritik, die ihn zu einer Erkenntnis führt, die allgemein als Theorie angewendet werden kann. Als ein Beispiel dafür mag die Darstellung einer Flucht in die Natur – vor dem Spott seiner Mitschüler - dienen, die bis an den Rand der Selbstvernichtung führte. Reiser empfindet dabei:

„Das stärkere Selbstgefühl verschlingt das schwächere unaufhaltsam in sich – durch den Spott, durch die Verachtung, durch die Brandmarkung des Gegenstandes zum Lächerlichen. – Das Lächerlichwerden ist eine Art von Vernichtung und das Lächerlichmachen eine Art von Mord des Selbstgefühls, die nicht ihresgleichen hat. – Von allen außer sich gehasst zu werden ist dagegen wünschens- und begehrenswert. – Dieser allgemeine Hass würde das Selbstgefühl nicht töten, sondern es mit einem Trotz beseelen, wovon es auf Jahrtausende leben und gegen diese hassende Welt Wut knirschen könnte …“

Und bald darauf:

„Was ihm aber auf dem Kirchhofe den Gedanken des Todes so schrecklich machte, war die Vorstellung des Kleinen, die, sowie sie herrschend wurde, in seiner Seele eine fürchterliche Leere hervorbrachte, welche ihm zuletzt unerträglich war. – Das Kleine nahet sich dem Hinschwinden, der Vernichtung – die Idee des Kleinen ist es, welche Leiden, Leerheit und Traurigkeit hervorbringt – das Grab ist das enge Haus, der Sarg ist eine Wohnung, still, kühl und klein – Kleinheit erweckt Leerheit, Leerheit erweckt Traurigkeit – Traurigkeit ist der Vernichtung Anfang …“ Gegen diese „Idee des Kleinen“ nun „… suchte er in seiner Seele wieder eine gewisse Ideenfülle hervorzubringen, um sich gleichsam nur vor der gänzlichen Vernichtung zu retten …“ Das ist zugleich Ätiologie wie Therapie der Depression und zwar aus einem sozusagen präexistenzialistischen Geist heraus, der dem 20. Jahrhundert schon recht nahe ist.

Um jedoch die Verbindung zum 18. Jahrhundert wiederherzustellen: „Anton Reiser“ ist auch ein beeindruckender Nachweis des bürgerlichen Kulturstrebens seiner Zeit, des kulturellen Sendungsbewusstseins jener Schicht, der Moritz angehörte. Wie viel ungeheure Produktivität ist bei seiner Generation im Spiel … Moritz hatte Iffland zum Schulkameraden und später Goethe zum Förderer.

Abschließend bemerkt: Moritz schreibt durchaus anregend und in einem flüssigen Stil, gelegentlich ironisch, manchmal auch humoristisch. So findet sich z.B. gegen Ende des Buches die Anekdote, wie bei einer dramatischen Aufführung des Werther-Stoffes dem Helden der Selbstmord nicht gelingen wollte. Die Pistole versagte, d.h. gab keinen Mucks - woraufhin er sich eben mit dem Brotmesser tötete. Aber der Darsteller des Wilhelm kam trotzdem mit seinem Satz: „Gott! Ich hörte einen Schuss fallen!“ auf die Bühne. Mit diesem unterhaltsamen und charakteristischen Detail verlässt der Autobiograph endgültig das Theater. Mit dem sentimentalen Posieren hat er abgeschlossen, jetzt ist er bereit für seine Existenz als Schriftsteller.

[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-11-19)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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