Zuerst im Jahr 2007 erschienen, wird neben vielen anderen Büchern von Patrick Modiano der hier vorliegende autobiographische Bericht des Literaturnobelpreisträgers neu veröffentlicht. Sehr groß ist das Interesse einer nun viel größer gewordenen Publikums, etwas mehr über die Herkunft und das Leben eines Schriftstellers zu erfahren, der sehr zurückgezogen lebt und selten sich in der Öffentlichkeit zeigt.
Er selbst schreibt zu seinem „Stammbaum“. „Ich habe nichts zu bekennen, nichts zu erhellen, und ich verspüre keinerlei Neigung zur Introspektion und Gewissenserforschung. Im Gegenteil: Je dunkler und geheimnisvoller die Dinge bleiben, desto mehr haben sie mich immer interessiert.“
Das wird nicht nur in seinem neuen Roman „Gräser der Nacht“ überdeutlich, auch hier in seinem autobiographischen Bericht, der sich liest wie ein Roman, dominiert die eher nüchterne Betrachtung, die karge Beschreibung dessen, was er erlebt und erfahren hat.
Eine Betrachtung und Beschreibung einer Kindheit, wie sie trostloser, einsamer und unglücklicher kaum hätte sein können.
Seine Eltern leben in einer Welt, die mit ihren Sohn nichts zu tun hat. Es ist als gäbe es den kleinen Patrick gar nicht. Die Mutter ist permanent abwesend und kalt, der Vater ist von grausamer Härte und Lieblosigkeit.
Ablehnung, Einsamkeit und Bindungslosigkeit- so sieht seine Kindheit und Jugend aus.
Eher teilnahmslos bringt Modiano etwas Licht in die Dunkelheit seiner Herkunft. Erschütternd, das kein einziger Mensch auftaucht, der ihm mit Liebe oder Zuneigung begegnen würde. Umso erstaunlicher, wie sich sein Schaffen dennoch entwickeln konnte. Nicht ohne Grund endet „Ein Stammbaum“ mit der Veröffentlichung seines nersten Buches.
Etwas erinnert war ich an Susanna Tamaros Lebensbericht „Ein jeder Engel ist schrecklich“ wo sie schreibt:
„Weil ich mit dem Feind in mir lebe, mit dem Nebel, der Nacht, der Verwirrung. Weil ich den Schmerz sehe und nichts dagegen tun kann. Weil ich das Unvollkommene sehe, die Leere, das Scheitern, und deren Sinn nicht begreife. Weil ich allein bin, weil mir keiner zuhört, mich niemand an der Hand nimmt. Weil ich irgendwo in mir eine immense Harmonie und ein immenses Licht erahne, und ich mich von diesem Licht und dieser Harmonie entferne wie ein Schiff, das in See sticht. Was zu Anfang der Sinn jedes Atemzugs war, wird mit der Zeit zum Blinken eines Leuchtturms in der Ferne. Ich weine, weil ich Angst habe vor der Leere und der Einsamkeit, die mich erwarten.“
Patrick Modiano, Ein Stammbaum, DTV 2014, ISBN 978-2-423-14435-3
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2015-01-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.