"Treue", der erste Roman des in Rimini geborenen Autoren, erschien bereits bei Wagenbach und wurde von Netflix verfilmt. Nun legt der Wahlmailänder mit "Alles haben" noch nach. Das Buch wurde mit dem Premio Bagutta, Italiens ältestem Literaturpreis, ausgezeichnet.
Der große Bluff
"Die zyklischen Schwankungen beim Spiel: Die seelische Verfassung als Sinuskurve mit sechs bis acht emotionalen Ausschlägen am Tag selbst. Gefühlsausschlag nach oben: Euphorie, Herzklopfen und Zittern, Gliederzucken, Wahrnehmungsstörugnen. Gefühlsausschlag nach unten: eingeschränktes Angstgefühl, mangelnde Reizübertragung aus der Außenwelt, kompletter Empathieverlust." Mit einfachen und klaren Hauptsätzen beschreibt Sandro, der Protagonist des Romans, seine Spielsucht. Eigentlich ist er Werbetexter, aber ein Werbetexter ohne Ideen. Und auch ohne Geld, denn das Spielen kostet ihn mehr als er verdient. Seine Mutter Caterina ist schon vor einigen Jahren gestorben. Damals schon wollte er aufhören, aber das ist leichter gesagt als getan. Jetzt kümmert er sich um seinen Vater Nando, Nando, den Eisenbahner. Aber auch Nando der Tänzer, denn als er jünger war beherrschte er den Scirea-Schritt. So lernte er auch seine Frau kennen. Aber das ist lange her. Seither machte ihm vor allem sein Sohn Sorgen, der Spieler. Nicht der andere. Den liebte er. Aber Nando und Caterina hatten nur einen Sohn: Sandro.
Ordnung ist das halbe Leben
Ein Roman über den Abschied von einem geliebten Menschen. Aber dieser Abschied kann auch eine neue Chance bedeuten. Denn vielleicht schafft Nando nach dem Tod seines Vaters, was ihm nach dem Tod seiner Mutter nicht gelungen ist? Aber vorerst kümmert er sich um ihn, im Juni, in Rimini, seiner alten Heimatstadt. Im November stirbt Nando. Vorbei ist es nun mit dem Tanzen. Aber noch lange nicht mit dem Spielen. Denn Sandro erbt viel Geld von seinem Vater Nando. Wird das endgültig sein Untergang? Missiroli beschreibt das Gefühl des Spielens, nicht das des Siegens oder Verlierens. Er findet einen stoischen Tonfall, unaufgeregt und geradezu lässig. Aber wir sind ja in Italien. Bei der Hitze geht ohnehin nichts schnell. "Die höchstmögliche Konzentration von Leben in der kürzestmöglichen Zeit. Die Intensität. Die Dichte. Die Jungfrau und das Kind mit Heiligenschein, die Seligen irgendwo in Mailand. Wir mit unserem So-viel-geht-Leben einerseits, die Seligen irgendwo in Mailand. Die Seligen und die Seligen." Ist das der Grund, warum man spielt? Um das Leben zu spüren, sich selbst mehr zu spüren? Missirolis Protagonist Sandro, weiß vielleicht, wie er sich befreien kann. Aber wird es ihm gelingen?
Marco Missiroli hat einen Roman über ein ambivalentes Vater-Sohn-Verhältnis, den Abschied von den Eltern und das Spielen geschrieben. Mehr noch über die Trauer und den Verlust, der sich auch durch das Spielen nicht mehr ausmerzen lässt.
Marco Missiroli
Alles haben
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Quartbuch.
2023, Klappenbroschur, 176 Seiten
ISBN 978-3-8031-3359-5
Wagenbach Verlag
20,– €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2023-09-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.