Der Literaturprofessor Carlo Pentecoste wird auf der Toilette mit seiner 22-jährigen Studentin Sofia Casadei erwischt. Aber nicht beim Sex. Seine Frau Margherita, Immobilienmaklerin mit eigener Agentur, wiederum treibt es mit ihrem Masseur Andrea, der eigentlich homosexuell ist. Dieser leidet wiederum unter seinem Verhältnis mit Giorgio, der in Hundewetten verwickelt ist. Und dann ist da noch die Familie, Sohn Lorenzo, Oma Anna und der verstorbene Opa Franco. Marco Missiroli hat eine Geschichte der Leidenschaften geschrieben, manche sind nur Fantasien, andere werden zügellos ausgelebt.
Obsessionen und Begierden
Die „Pentecoste-Methode“. Rausgehen und draußen lernen. Oder aber in eine Bar. Der Dozent für literarisches Schreiben hat eigentlich nur einen Lehrauftrag und sucht währenddessen nach richtiger Arbeit. Das mündet am Ende in ein Bewerbungsgespräch bei einer Bier-Firma, das man gelesen haben sollte. Genauso wie diesen Roman, der einen ebenfalls auf das Leben vorbereitet, sollte man nicht schon mittendrin stecken. Das Paar, Carlo und Margherita, ketten sich durch eine 550.000€ Wohnung in Mailand aneinander und doch sind ihnen die erworbenen 117m2 nicht genug Platz zum Leben. Denn beide suchen etwas außerhalb ihrer Beziehung, das es wahrscheinlich gar nicht gibt. Zu sehr haben sie sich schon aneinander gewöhnt. Aber Geheimnisse beleben offensichtlich das Geschäft. Und man muss ja nicht immer alles über seinen Partner wissen. Oder doch? Margherita will alles wissen, während Carlo gerade mal Verdacht schöpft. Mehr nicht.
Geheimnisse retten Beziehungen?
„Etwas geheimzuhalten, ein Stück Intimsphäre zu wahren, das hatte er doch als Teenager gegenüber seinen Eltern gelernt, wieso sollte er das nicht mehr beherrschen?“ Aber während Carlo noch überlegt, hat „Marghe“ ihre Affäre längst schon abgehakt. Denn nur durch den Vollzug kann man es abhaken. „deragliare“ heißt es im Italienischen, „entgleisen“: „Ihr Waggon hatte immer schon nur eine Mittelpufferkupplung, ganz wie ihr Vater gesagt hatte. Sie war aus dem Gleis gesprungen, hatte die Spur nicht halten können, sie war Signorina Scharfenberg – und das war nun die Folge davon. (...) Denn es war eine Tatsache, die einzig wahre Tatsache, dass das Ganze natürlich gewesen war. Sie hatte einen jungen Mann gevögelt, der ihr gefiel und der ihr Lust bereitete. Was sollte das ihrer Ehe nehmen?“ Marghe’s pragmatischer Zugang zu Treue ergänzt auch Carlo’s Vorstellungen von seiner Treue zu sich selbst.
Marco Missiroli
Treue
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Quartbuch. 2021
256 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag
23,– €
ISBN 978-3-8031-3330-4
Wagenbach
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2021-02-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.