Henning Mankell, der nun wirklich Ahnung hat von guter Kriminalliteratur, nennt den hier vorliegenden Debütroman des israelischen Literaturprofessors und Lektors Dror Mishani „originell und beeindruckend“ und ist insbesondere angetan von Avi Avraham, mit dem ein neuer, sehr spezieller Ermittler die Krimibühne betritt.
Der Roman spielt in Cholon, einem Vorort der israelischen Metropole Tel Aviv. Dort ist der alleinstehende, ziemlich schrullige Kommissar Avi Avraham zuständig für allerlei kleinere und größere Delikte. Mal ist es eine Schulhofprügelei, mal ein Diebstahl. Nichts Weltbewegendes und vor allen Dingen nichts, was Avi aus der Ruhe bringen könnte. Er strahlt zunächst etwas aus wie Langeweile und eine subtile Form von Inkompetenz, und man fragt sich als Leser, wie ein solcher Ermittler erfolgreich sein kann.
Auch und gerade mit dem Fall, der auf seinem Schreibtisch landet, als eine aufgebrachte und besorgte Mutter das Verschwinden ihres 16-jährigen Sohnes Ofer anzeigt. Ihr erläutert er zuerst einmal seine Lieblingstheorie: „Wissen Sie, warum es keine Kriminalromane auf Hebräisch gibt? Weil solche Verbrechen hier nicht vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen.“
Und mit dem Hinweis, dass der Junge sicher bald wieder auftauchen wird, schickt er die Frau nach Hause. Schon bald aber merkt er, dass er einen Fehler gemacht hat. Denn Ofer taucht nicht auf, und es finden sich auch keinerlei Spuren.
Nur ein Lehrer aus der Nachbarschaft der Familie, der über eine längere Zeit Ofer Nachhilfestunden erteilt hat und selbst träumt von seinem großen literarischen Durchbruch, kann einige Hinweise geben auf die Wesensart des Jungen. Doch die Art, wie er das tut, wie er immer wieder fast penetrant die Nähe Avi Avrahams sucht, macht ihn suspekt, erst recht als er beginnt, sich auf eine indirekte Art einzumischen.
Dror Mishani fängt sehr sensibel das Leben und den Alltag in Cholon ein, von den „typischen“ israelischen Themen ist kaum die Rede, wohl aber vom Alltag und den Sorgen der auftretenden Personen. So entsteht nicht nur eine faszinierende Milieustudie, sondern auch ein spannender Psychothriller, dessen Handlung sich zuspitzt und am Ende mit einem völlig unerwarteten Höhepunkt glänzt.
Im Verlauf der Handlung zeit sich, dass Avi Avraham, den man zunächst für wenig kompetent haltern musste, auf seine ganz spezielle Art den Fall löst. Man darf sich schon heute auf den zweiten Band der Reihe freuen, der in Israel schon erschienen ist.
Dror Mishani, Vermisst. Avi Avraham ermittelt, Zsolnay 2013, ISBN 978-3-552-05645-9
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-01-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.