Lee Miller sei im Zweiten Weltkrieg wohl die einzige Frau gewesen, die das Vorrücken der alliierten Streitkräfte in Westeuropa als Kriegsfotografin begleitet hatte, schreibt David E Scherman im Vorwort zu dieser beeindruckenden Publikation des Tiamat Verlages, die mit einigen Fotos der Künstlerin illustriert wurde. Das erstaunliche Leben dieser Ausnahmekünstlerin schildert sie dann selbst in ihren eigenen Worten, auch zum Beispiel wie es zu ihrem berühmten Foto „ Nackt in der Badewanne von Adolf Hitler“ gekommen ist. „Paris war verrückt geworden“, schreibt sie in vorliegender Publikation über die wenigen Stunden vor der Befreiung in denen die Stadt einem aufgeregten Ameisenhaufen glich. Selbst die Flics – die Polizisten – hätten daran mitgearbeitet und sich dafür den Respekt erarbeitet, den sie auch heute noch genießen sollten, selbst in den Banlieues. Versailles und sein Orangengarten seien unzerstört geblieben, auch der Eiffel-Turm, den Miller mit seiner in den blauen Himmel ausgestreckten Spitze bewundert. „Die GIs hielten angesichts einer Stadt der ihnen zufliegenden Pin-up-Huris en masse den Atem an“, schreibt Miller über das Verhältnis der französischen Frauen zu den amerikanischen Befreiern. Aber auch die sexy Kleidung sei eigentlich als Provokation auf die Krauts und Hunnen (pejorative Spitznamen für die Deutschen) gemünzt gewesen, deren Frauen „souris gris“ (graue Mäuse) genannt wurden, so Miller. Das Adrenalin der Siegesfreude beflügelte alle, die sich von der Befreiung ein besseres Leben erhofft hatten.
Vom Surrealismus zur Katastrophe
Als Teenager lebte sie in Frankreich und lernte dort die „Lost Generation“ der Zwanziger Jahre kennen, arbeitete an einem Theater am Montmartre und hielt sich in Studios berühmter Maler und Fotografen – darunter auch Man Ray – auf. Vorerst experimentierte sie noch mit Solarisation und machte unter dessen Einfluss surrealistische Fotos, bald fand sie aber zu ihrem ureigenen autochthonen Stil. Vorher lebte sie aber noch – in den Dreißiger Jahren – in Ägypten wo sie einen Tycoon heiratete, mit dem sie dann wieder nach New York zog. In London arbeitete sie während des Krieges für die Vogue, wo sie die Mode und Alltagsserie „Grim Glory“ illustrierte oder die Angriffe der deutschen Luftwaffe dokumentierte. Die „Yankie aus Poghkeepsie“ wie Scherman sie gerne nennt, arbeitete als „inoffizielles Maskottchen“ (O-Ton Scherman) während des Krieges dann bei der 83. Infanterie. Die „Kapitulationspezialistin“ habe aber auch viel Zeit mit „boondoggling“ vertrieben und sich „gargantueske Mengen von Rouyer’s Cognac einverleibt“. Trotzdem war sie immer schon vorher da, wie auch die New York Herald Tribune Journalistin Marguerite Higgins neidvoll zugeben musste: „Wie kann es sein, dass immer, wenn ich irgendwo eintreffe, du und Lee Miller schon dabei seid, wieder aufzubrechen?“
a mensch
Ihre „Ruhelosigkeit“ sorgte auch dafür, sich immer wieder selbst neu erfinden zu müssen, was einerseits sehr viel Bewunderung, andererseits aber auch sehr viel Nerven kostete, so Scherman.“ Sie war auf bissige Art brillant und dennoch vollkommen loyal, unprätentiös und unerbittlich gegenüber jeder Art von Augenauswischerei. Sie war eine vollendete Künstlerin und ein vollendeter Clown, gleichzeitig eine Hinterwäldlerin aus Upstate New York und eine kosmopolitische Grand Dame, kaltes, soigniertes fashion model und Wildfang.“ Die gewohnheitsmäßige „Herumtreiberin“ sei aber auch eine „Renaissancefrau des mittleren 20. Jahrhunderts“ gewesen. „Im weniger hochtrabenden, dafür vielleicht aber treffenderen Popkulturpatois ihres Heimatlandes würde man sie a mensch nennen“, so Scherman (Hervorhebung durch DES)
Im Albertina Wien ist derzeit eine einzigartige Ausstellung bei der viele Exponate das erste Mal in Europa gezeigt werden zu sehen.
Lee Miller
Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945. Reportagen und Fotos
Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hofmann
Critica Diabolis 209
Mit zahlreichen Fotos
Tiamat Verlag, gebunden mit Schutzumschlag, 336 Seiten
24.- Euro
ISBN: 978-3-89320-178-5
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-04-30)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.