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Pierre Michon - Die Grande Beune
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Michon, Pierre:
Die Grande Beune

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(Bücher frei Haus)

Pierre Michon gilt als exzellenter Schriftsteller, als einer der großen Lebenden der französischen Literatur. Fürs deutschsprachige Publikum scheint er nicht durchsetzbar; auch aus Frankreich bekommt man Einschätzungen, Michon sei „schwierig“, ein Einzelgänger. Manchmal ist von „unfranzösischem“ Stil die Rede. Die klobige Urtümlichkeit der dörflichen Szenerien, die - für französische Verhältnisse, nicht für deutsche - weit ausgreifenden, schweifenden Satzstrukturen. Hingegen sind andere Merkmale seines Stils sehr wohl typisch für Frankreich: das Verknappte der Romane, die Novellen genannt werden sollten, die Schauplätze in ländlicher Provinz, „la France profonde“, das leidende Erfahren unerwarteter Liebe, auch Michons teils essayartiges, nicht Realismus-versessenes raffendes Erzählen.

In einer dünn besiedelten Region des Südwestens tritt Anfang der sechziger Jahre ein junger Lehrer seinen Dienst an. Tief ins Kalkgestein hat sich das Flüsschen Beune hier eingefressen. Wir befinden uns ein gutes Stück südöstlich von der einzigen größeren Stadt der Region, Périgueux. Die ausgemalten Höhlen der Eiszeitjäger sind nur wenige Kilometer entfernt. Zwei Beunes lassen sich auf den Landkarten entdecken, nicht beieinander, beide nicht groß genug, um mit dem manchmal jagenden Strom aus Michons Buch identisch zu sein. Es dürften eher Vézère oder Dordogne Pate gestanden haben, obwohl beider Namen im Buch auch erwähnt sind.

Der Lehrer lernt eine nicht mehr junge Frau kennen, Yvonne, Besitzerin des Tabakladens, ohne Mann, die Mutter eines Schülers, eines übergewichtigen Jungen. Wie der Körper einer heidnischen, erdhaften Göttin zieht die Ältere ihn an. Zweifellos versucht der Autor, eine mythologische Qualität aus der Frühgeschichte des Périgord in seine moderne Erzählung herüber zu holen. Der namenlose Protagonist besucht eine der Jägerhöhlen, imaginiert sich in die Rolle eines „Primitiven“, der sich Yvonne nimmt wie seine Beute. Doch im realen Leben ist er unfähig, auch nur verzagt um sie zu werben. Es sammelt sich Frustration an, die am dicken Kind dann ausgelassen wird.

Die kleine Fabel des Kurzromans ist gar nicht so wichtig. Die größere Leistung von Pierre Michons „Großer Beune“ liegt in seiner formalen Meisterschaft, der somnambul tanzenden Sprache, die einen Leser wie angesäuselt von der einen kleinen Impression in die nächste hinüberträgt. An jeder beliebigen Stelle kann man das dünne Buch aufschlagen, dort vielleicht zwei Seiten lesen. Entweder ist dieses Neo-Kultische einem dann schon verleidet oder man weiß, dass man es mit einem der großen Erben europäischer Literaturtradition zu tun hat.

Die abgegriffene Vokabel „poetisch“ darf guten Gewissens verwendet werden; in diesem Fall besagt es nicht übersteigert oder weihevoll verrätselt. Alles ist gleichermaßen phantastisch wie konkret und einfach, „am Boden der Dinge“.

Wenn er bei der folgenden Passage anlangt, sind dem Leser die hier versammelten Ingredienzen bereits mindestens einmal gezeigt worden, sind nichts Fremdes mehr, der tagelange Regenfall, das flüssige Element, über welches hinweg die Passage zur anderen Hälfte des Menschseins führt, die archaische Fischerfigur Jean, ein totes Raubtier, ausgestopft in einer Gaststube. Michons Kunst ist es, aus anekdotischen Gegenständen ein sublimes Ereignis sprachlicher Gestaltung zu erschaffen. Was für ein Ton!

Zitat:

Ein Teekessel pfiff, die Kaffeemaschine dampfte. Ich war durchnäßt, kochte jedoch in diesem Wasser mit. Verwirrt setzte ich mich unter den Fuchs des Hauses, ein paar Trinker in dampfendem Ölzeug saßen da, ein paar Fährmänner, die sich, an der Theke festhaltend, mit großen Schlucken Bier auf die andere Seite, ans gegenüberliegende Ufer brachten, das aussieht wie das hiesige, wo man die gleichen Leute trifft, das aber weicher, wärmer, pulsierender ist; Jean der Fischer war nicht dabei - übrigens wohnte er nicht dort und kam nicht jeden Abend -, man hatte ihn in der Morgendämmerung aufbrechen sehen, zum Aalfang oder was auch immer, er hatte mit den Augen gezwinkert und war, den Rücken weisend, das Stellnetz auf der Schulter, mit seinen Reusen hinunter zur Kleinen Beune verschwunden.


[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-08-10)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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