„Wir bewegen uns ja nicht als anonyme Wesen im Weltall. Wir bringen unsere Persönlichkeit und uns als Menschen dorthin. Ganz egal, welche Planeten wir zukünftig im Kosmos betreten werden, wir werden immer einen Teil unserer Lebensgewohnheiten, unsere Lebensart und unser Menschsein von der Erde mitbringen“, schreibt der Raumfahrer Sergej Krikaljow im Geleitwort zur vorliegenden Publikation und betont, dass es den Menschen auf der Erde ähnlich gehen würde, wie den Kosmonauten in ihrer Weltraumkapsel: nur durch Kooperation und Solidarität konnten sie überleben. „Im Weltall zu sein lehrt uns, alle egoistischen Bestrebungen abzulegen und sich selbst als Teil eines großen Ganzen zu begreifen. (…) Der Weg in den Weltraum ist immer auch ein Weg in den Frieden.“
Begegnungsplatz Weltall
Mitten im Kalten Krieg wurden über alle ideologischen Gegensätze hinweg die beiden Raumkapseln Apollo und Sojus am 17. Juli 1975 in der Erdumlaufbahn angekoppelt. Im selben Jahr wurde die KSZE-Konvention der Menschenrechte in Helsinki, die heute zu Recht als erster Sargnagel des kommunistischen Systems bewertet wird, unterzeichnet. Die beiden feindlichen Supermächte hatten den Wettlauf ins All vorläufig für beendet erklärt, denn auch wenn die Sowjets den ersten Mann dorthin schickten (1961), waren es doch die Amerikaner, die als erste auf dem Mond landeten (1969). Diese Pattstellung war vielleicht die Voraussetzung für die Zusammenarbeit der beiden Raumkapseln und man würde sie heute gerne als symbolische Metapher für das friedliche Ende der Blocksysteme bewerten.
Der Kosmonaut als idealer Sowjetmensch
Viele Science Fiction Serien, Bücher, Filme die in den 60er und 70ern des vergangenen Jahrhunderts entstanden zeigen die Welt als eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die gemeinsam den Weltraum kolonisieren und auf Erden in Frieden miteinander leben, ohne nationale Grenzen oder Vorurteile. Auch die „Gotteshäuser der Moderne“ werden gemeinsam errichtet, denn die kosmische Architektur soll die religiösen Kathedralen der Vergangenheit ersetzen, da der Fortschritt allen gleich nützen würde. Die Vorstellungen von einer Einheitsregierung, die alles gerecht regeln würde, entstand im Zeitalter der Blocksysteme und geht natürlich auch auf die Kolonialsystem der Vergangenheit zurück. Die bolschewistische Revolution in Russland 1917 hätte einen „ungeheuren Entwicklungsschub ausgelöst, der sich in den darstellenden Künsten und in der Architektur manifestierte“, so Philipp Meuser in vorliegender Publikation. Die technische Avantgarde wurde zur Kunst und der Glaube an ein kosmisches Zeitalter der Brüderlichkeit, sollte bald jede Religion in der neuen Sowjet ersetzen. Die Träume der Utopisten sollten in der neuen Gesellschaft verwirklichte werden. „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“, damit hatte ja auch Lenin schon das neue System gepriesen. Und was eignete sich schließlich besser für experimentelle Weltraumstädte als das sowjetische Sibirien? Eben!
Sibirien als Labor der Zukunft
Die beispiellose Weltraumbegeisterung in der Sowjet zeigt sich auch im „futuristischen Formenvokabular der sowjetischen Baukunst“, in den Utopien der sogenannten Papierarchitekten – und in den Bauten für die sowjetische Raumfahrt in Baikonur, Kaluga oder den geschlossenen Städten bei Moskau. Die Autoren haben einst als geheim eingestufte Materialien zur Raumfahrtarchitektur recherchiert, darunter den Plan der ersten jemals konzipierten Weltraumstadt, sowie erstmals autorisierte Zeitzeugenberichte gesammelt: Zu Wort kommen nicht nur Akteure der sowjetischen Raumfahrt, sondern auch Architekten wie etwa Viktor Asse, der Planer des bis zum Zerfall der Sowjet geheimen Sternenstädtchens, und Galina Balaschowa, die Innenarchitektin sowjetischer Raumkapseln. Eine Publikation die nicht nur aufgrund ihres kosmischen Formates jeden universalen Rahmen sprengt.
Architektur für die russische Raumfahrt
Vom Konstruktivismus zur Kosmonautik:
Pläne, Projekte und Bauten
Herausgegeben von Philipp Meuser
Mit einem Vorwort von Sergej Krikaljow und Beiträgen von Ansgar Oswald, Maryna Demydovets und weiteren Autoren
230 × 300 mm, 412 Seiten
366 Abbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-86922-219-6
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-06-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.