Die Widersprüche des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner Verwertungslogik stehen im Zentrum dieses Sammelbandes des Kadmos Verlages im Spannungsfeld zwischen Kreation und Depression. Der der Grad der Vernetzung entscheide heute über die Zukunft eines Individuums, jedoch sei dieser gleichzeitig von Vereinsamung und Entfremdung gekennzeichnet. An die Stelle der sozialversicherungspflichtigen Monotonie sie die prekäre Kreativität des Freiberuflers getreten, die man sich Mitte des vorigen Jahrhunderts noch gewünscht, ja geradezu ersehnt hatte, allerdings ohne den Zusatz „prekär“ natürlich. Aber Freiheit geht gezwungenermaßen immer auf Kosten der Sicherheit und beides haben zu wollen, gleicht den beiden Schneiden einer Schere: es ist unmöglich sie im größtmöglichen Maximum zusammenzuführen. Eigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit, Kreativität sind heute zu entscheidenden gesellschaftlichen Anforderungen geworden. Zwar ist unsere Gesellschaft nicht mehr dem Kadavergehorsam verpflichtet, aber dennoch diszipliniert sie, denn wer es nicht schafft, sich der beschriebenen und verlangten Normierung des Subjekts anzupassen, bleibt ganz einfach auf der Strecke. Kreative Selbstverwirklichung steht genauso unter dem Zeichen des Wettbewerbs wie der Gewinn von Freiheit. Der vorliegende Sammelband widmet sich dem Stand ästhetischer Freiheit aus soziologischer, philosophischer, kulturtheoretischer und historischer Perspektive und versucht Aufschlüsse zu geben, wie man leben kann, ohne dabei nur zu überleben.
Wofür es sich zu leben lohnt
Der alten philosophischen Frage, wofür es sich zu leben lohne, geht Robert Pfaller in seinem Essay in vorliegendem Sammelband nach. „Perfection in imperfection“ findet der Philosoph etwa in der Zigarette, deren Genuss ja gerade darin liege, dass „ihre Schädlichkeit es ist, die sie so erhaben macht“. „Ohne die Verrücktheiten der Liebe, die uns gerade sperrigen Eigenschaften geliebter Personen anbeten lässt; ohne die Unappetitlichkeiten der Sexualität; ohne die Unvernunft unserer Ausgelassenheiten (…)“, wäre das Leben doch nicht vielmehr als eine vorhersehbare geistlose Angelegenheit ohne jegliche Höhepunkte und was dann noch vom Leben übrigbliebe, verdiene wohl nur kaum diese Bezeichnung. Gerade die Unterbrechung des Alltagslebens durch z.B. eine Zigarette würde aber in die Kategorie des „sacré quotidien“ gehören, eine „zwiespältige, unterbrechende, entprofanisierende“ Tätigkeit, die eben aus dem Alltäglichen, das Besondere mache, nicht zuletzt durch dessen Nähe zum Tod. Denn obwohl eine Pause eigentlich ja der Belebung des Organismus dienen sollte, wird sie gerade durch die Zigarette ad absurdum geführt und so wird eine einfache Zigarettenpause zu einem „sacré quotidien“.
Ekstase in Askese
Auch das Feiern gehört in diese Kategorie, denn niemand wird allen Ernstes behaupten können, dass der übermäßige Fleisch oder Rouladenkonsum zu Oster und Weihnachten irgendetwas gesundheitsförderliches oder dem Leben dienendes an sich haben könnte. Das Feier-Gebot der Religion wurde aber wenigstens durch Abstinenz vorbereitet und ermöglichte vielleicht gerade dadurch eine Ekstase in Askese. Die feierliche Situation gebiete ja quasi die „Überschreitung“, so schon Georges Bataille“ und eingebettet in die Religion hatte diese Überschreitung sicherlich auch einen kathartischen Effekt. „In der Feierlichkeit transformiert die feiernde Gruppe das ungute Kulturelement in ein erhabenes, sublimes“, so Pfaller. Gerade im Aufrechterhalten der Illusion liege die Zivilisiertheit, denn jeder wisse, dass dem Verhalten jedes Menschenin der Öffentlichkeit ein gewisses „als ob“ als Verhaltensmaxime zugrundeliege. „In dem durch das Kollektiv gestärkten, vollen Bewusstsein ihres Spiels, freuen sie sich, gemeinsam einen virtuellen Beobachter hinters Licht zu führen, der glauben könnte, sie wären naiv und hätten einen schlechten Geschmack.“ Aber bald trete an die Stelle des theatralischen Scheins die bittere Wahrheit der kosmetischen Chirurgie, so Pfaller. Diese
„Kultur des Nulldefizits“, sei der Vorhang, der über die Szene falle, wenn der Atem des Publikums stockt und der Applaus des Publikums sich aus Verlegenheit heraus losbricht. Das Über-Ich übernehme die Kontrolle und strafe umso mehr man ihm gehorche. Eine emanzipatorische Politik sei deswegen auch immer mit infamster Verachtung für diejenigen gespickt, in deren Namen sie angeblich spreche.
Weitere Beiträge u.a. von Luc Boltanski , Ulrich Bröckling, Ève Chiapello, Gilles Deleuze, Diedrich Diederichsen, Alain Ehrenberg, Carl Hegemann, Tom Holert, Axel Honneth, Michael Makropoulos, Christoph Menke, Robert Pfaller, René Pollesch, Juliane Rebentisch, Andreas Reckwitz und Dieter Thomä.
Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg.)
Kreation und Depression
Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus
252 Seiten
Kulturverlag Kadmos
15 x 23 cm, broschiert
(Kaleidogramme Bd. 67)
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-04-16)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.