Im erinnernden Erzählen bleibt die Vergangenheit und bleiben Menschen lebendig. Eva Menasse blieb in ihrem Romandebüt „Vienna“ vor einigen Jahren dieser jüdischen Weisheit ihrer Vorfahren treu und erzählte die Familiengeschichte der väterlichen und der mütterlichen Linie.
Wie in allen jüdischen Familiengeschichten des 20. Jahrhunderts kreiste auch in diesem Buch alles um den Holocaust, und wie die Überlebenden und ihre Nachkommen mit diesem unbegreiflichen Verbrechen umgehen. Es kreiste aber auch um jüdische Identität, um die politischen und kulturellen Debatten der siebziger und achtziger Jahre in Österreich. All dies war damals mit so viel Humor und einer nur in Wien ansässigen Mischung aus jüdischem Humor und Wiener Schmäh erzählt, dass die Lektüre eine wahre Freude war und man schon damals voller Interesse auf ihr nächstes Buch gespannt war.
Ihr 2009 erschienener Band „Lässliche Todsünden“ mit Erzählungen überzeugte weniger, dafür hat sie nun mit ihrem neuen Roman „Quasikristalle“ an der jüdischen Weisheit des erinnernden Erzählens angeknüpft. In einem sehr originellen Konzept verfolgt sie die Lebensgeschichte ihrer Protagonistin Xane Molin in insgesamt dreizehn Kapiteln . Sie taucht in jedem davon auf, doch in jedem Kapitel sind die wichtigen Personen andere als sie selbst. Familienangehörige etwa, Freunde, Nachbarn und viele andere interessante Menschen.
Eva Menasse hat den Titel ihres Buches einer Erkenntnis aus der Naturwissenschaft entliehen, die erst vor Kurzem herausgefunden hat, dass es nicht nur Kristalle mit klar symmetrischer, sondern auch mit scheinbar ungeordneter Struktur gibt. So und nicht anders verhält es sich mit unseren Lebenswegen und unserer Biographie , will sie damit sagen. Unser Lebensweg ist verschlungen und schwer berechenbar und nur aus der Ferne und aus dem Rückblick als Ganzes überhaupt erkennbar.
Und nur im erinnernden Erzählen bleibt die Vergangenheit und bleiben die Menschen lebendig. Unser Leben wird von einer Vielzahl von Einflüssen, Orten und Kräften beeinflusst. Hat man sich erst einmal an die permanent wechselnden neuen Personen gewöhnt, die den Weg Xanes kreuzen, ist die Lektüre des neuen Romans von Eva Menasse eine Freude und ein Genuss.
Eva Menasse, Quasikristalle, Kiepenheuer & Witsch 20134, ISBN 978-3-462-04513-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-03-19)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.