Anders als die deutsche Nachkriegsliteratur haben sich in Italien nur wenige Autorinnen und Autoren mit dem Erbe des Faschismus und seiner Verbrechen beschäftigt. Ein mutiger Schritt kommt nun von der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri, deren Roman „Eva schläft“ ebenfalls schon beim Wagenbach Verlag erschienen ist. Ihr drittes, hier in einer sehr guten deutschen Übersetzung vorliegendes Buch „Alle, außer mir“ wurde bereits für den Premio Strega, den höchsten italienischen Literaturpreis nominiert.
Kolonialismus und Faschismus
Die Geschichte von „Alle, außer mir“ ist die Geschichte eines äthiopischen Flüchtlings, der eines Tages plötzlich vor der Türe der vierzigjährigen Lehrerin Ilaria steht und behauptet, mit ihr verwandt zu sein. Wer die Geschichte Italiens kennt, weiß, dass es unter Mussolini einmal ein „koloniales Abenteuer“ in Äthiopien gab, dem insgesamt geschätzte 700.000 zum Opfer fielen. „So hebt eure Feldzeichen in die Höhe, Legionäre, das Eisen und die Herzen, um die Rückkehr des Kaisertums auf die heiligen Hügel Roms nach fünfzehn Jahrhunderten zu begrüßen“, zitiert Melandri Mussolinis Worte. Ein Kapitel in der italienischen Geschichte über das heute noch sehr ungerne gesprochen wird. Francesca Melandri tut es, und zwar ausführlich: auf über 600 Seiten arbeitet sie die italienische Vergangenheit auf und spart dabei nicht mit aktuellen Bezügen. Denn auch das „System Berlusconi“ ist Teil dieses dunklen Kapitels unseres ansonsten so wunderbaren Nachbarlandes.
Familiengeschichte als Porträt einer Gesellschaft
Attilio Profeti, das ist der Name von Ilarias Vater, aber er ist inzwischen schon 95 Jahre alt und kennt seine eigenen Kinder nicht mehr. Wird er sich aber an seinen afrikanischen Sohn gleichen Namens erinnern? Die Familiengeschichte über drei Generationen wird unter der Feder von Francesca Melandri zu einem schonungslosen Porträt der italienischen Gesellschaft und des Kolonialismus und Faschismus. Die verdrängte italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts wird von ihr thematisiert und mit den Verbindungen Italiens nach Äthiopien und Eritrea bis hin zu den gegenwärtigen politischen Konflikten verknüpft. Melandri erwähnt auch die Tatsache, dass Diktaturen wie Gaddafi die afrikanischen Massen noch in Afrika hielten, während es heute schon etwas schwieriger geworden ist, Zuwanderung zu regulieren. Seitenhiebe auf Bob Geldofs „We are the world“-Projekt, Einblicke in das Leben am römischen Esquilino (einer der sieben Hügel Roms), sowie die afrikanische Gesellschaft am Beispiel Äthiopiens („das einzige Land das seine Kolonialherren eigenständig rausschmiss“) wechseln einander ab und ermöglichen so einen neuen Zugang auch zur heutigen Situation in Italien und Europa. Ein mutiger Roman, der einen weiten Bogen spannt.
Francesca Melandri
Alle, außer mir
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Quartbuch. 2018
608 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag
Buch 26,– € / E-Book 23,99 €
ISBN 978-3-8031-3296-3
Wagenbach Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2018-09-26)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.