Der dritte Band bringt eine neue Person ins Spiel: Kari Selb...
Und einleitend ist ein Essay von Michel Foucault vorangestellt:
„Weibliches Töten ist ein Schritt
aus der weiblichen Sprachlosigkeit.
Es heißt nichts anderes als:
Ich spreche. Jetzt spreche ich.“
Obwohl die Handlung sich auf eine Untersuchung der Patientin beschränkt, der Ort auf ein Untersuchungszimmer mit zwei Stühlen und einem Tisch- und einer Alarmklingel an einer Schnur, wird ein Teil der Handlung abgekoppelt- zwischen geschoben und aus der erinnernden Erzählung der Patientin lebendig:
Resumeè einer Mörderin und Brandstifterin:
„Ich bin im Zustand der Gnade. Ich töte. Ich bin. Auf diese kurze Formel gebracht, betrachte ich mein Leben als gelungen. Als vollendetes Kunstwerk, dem keine Farbschattierung fehlt und das an allen denkbaren Formen gewachsen ist. Sogar die Farben der Liebe sind darin enthalten, ob Sie es glauben oder nicht. Die Liebe spricht man meinesgleichen bekanntlich ab. Zu Unrecht, zu Recht, das hängt davon ab, wie Sie ein Leben betrachten.....“
Aber dann kommt die Sprache auf „Malik“, eine Erscheinung, „die verschwand als ich den größten Teil meines Lebens hinter sich gebracht hatte – und die wiederkommen wird“....
Kari Selb befindet sich in Untersuchungshaft. Sie spricht aus der Erinnerung heraus in der ICH-Form, beschreibt ihre Jugendzeit soweit sie Erinnerung hat.
Die Anamnese ähnelt der, die dem Leser von „Daskind“ schon bekannt ist, eine beginnende Dissozialisierung etwa ab dem 12. Lebensjahr. Vater ein Trinker, Fremdgeher, die Mutter eine Frustsäuferin. Wenn die Tante zu Besuch kommt ( Schwester mütterlicherseits) nächtigt sie im Mansardenzimmer. Die Mutter hält sich dann auch oben auf, teilweise auch der Vater (!) Ringsumher dörfliches Leben(ein Dorf, das eigentlich kein Dorf mehr ist). Kari versorgt die Mutter, hilft ihr, wenn diese sich beim Trinken einnässt. Die fürsorgliche Rollenverteilung innerhalb der Familie ist buchstäblich auf den Kopf gestellt: Kind sorgt für alkohohol - lädiertes Elternteil .
Kurz nach dem 12. Geburtstag erscheint Malik zum erstenmal. Malik ist eine „sie“ . Bis dahin sei alles „normal verlaufen“. Der tägliche Alltagsstreit, das gegenseitige Heimleuchtenwollen der Eltern.
„Malik tauchte auf und verschwand – in immer kürzeren Abständen“.
Kari berichtet anlässlich einer psychiatrischen Begutachtung einer Ärztin.
Auf Befragen der Untersuchenden erzählt sie aus ihrer Jugendzeit. Man nennt das „Selbstexploration“ oder „Exploration“.
Sie kämpft um ihre Zurechnungsfähigkeit. Sie befindet sich in Untersuchungshaft.
Eine Telefonzelle habe als erstes gebrannt – Malik sei beteiligt gewesen, gewissermaßen ihre Idee. Nachdem das Feuer sich richtig entfaltet habe, sei Malik einfach abgehauen, so dass sie sich nicht zu zweit freuen konnten.
Bald brennt auch ein Haus – in der Stadt, in welcher der abtrünnige Vater wohnt (mit der Tante zusammen). Und noch mehr Brände geschehen. Karis rote Schuhe sind weg – einfach so. Dafür trägt sie Malik, wenn sie auftaucht!
Sie – Malik - bereitete bereits dem Untersuchungsrichter einige Kopfzerbrechen. Die untersuchende Ärztin aber stellt die gleichen Fragen, fragt mehr und eindringender, als Kari von sich aus zum x ten Male aus ihrer Jugendzeit berichtet - wie vorher schon dem Untersuchungsrichter. Kari wird böse, wenn man sie bohrend nach Dingen fragt, die ihr nicht wichtig erscheinen oder die sie nicht beantworten will.
Ein Bauernhof wird abgefackelt und Malik trägt die roten Schuhe, die eigentlich die ihren sind. Dem Bauern wird der Prozess gemacht, schließlich war es sein Brandbeschleuniger, der verwendet wurde, mit dem er sonst die Felder abbrennt, wenn die Zeit gekommen ist.
Die Frau des Bauern verkehrt nun im Hause der Kari Selb und der trinkenden Mutter, die sich flüssig ernährt. Rosa! Sie bringt Maliks rote Schuhe mit. Weder Neid noch Hass begleiten die Brände, äußert sich Kari Selb; auch nicht, als ein Boot in Flammen aufgeht .Assoziationen tauchen auf – von Kari geäußert, Gerüche, Geräusche , Farben – „rote Nächte, Keuchen Stöhnen, Quietschen“ , Gerüche nach Verwesung – vermischt mit 4711.
„ Geruch nach Angst. Sie riechen die Angst? Endlich“.
(Auszüge;)“Die Hände der Ärztin an der Klingelschnur“ – „nur Gespräche - keine Waffe“ – „keine Angst zeigen. Ganz unbefangen sein“. „Von rot keine Ahnung“...
Wenn sie von der Angst spricht, möchte Kari der Ärztin das Du anbieten:
„Du-du du. Ich – du - Malik und Seraphim. Der Dritte im Bunde“. „Seraphim, Sohn einer Hure“.
Die Anamnese gibt im Verlaufe der Selbstexploration der Kari Selb noch Schlimmeres preis. Die Rechtfertigung des Handelns mit dem Ziel, Unverständlichem einen logischen Sinn zu entlocken in der gleichzeitigen Erkenntnis, die befragende Ärztin damit nicht zu erreichen ist ein ungeeignetes Plädoyer, damit als „schuldfähig“ eingeschätzt zu werden zumal als Ratgeber für die Brandlegungen eben jene Malik infrage kommt, die rote Schuhe trägt, ihre roten Schuhe.
So viel als Einstieg in den sehr komplexen Bereich der Darstellung einer Fehlentwicklung bis hin zu einer gespaltenen Persönlichkeit und/oder Bewusstseinstörung. Die Autorin vermeidet dabei jegliche Diagnosen, beschränkt sich auf die Darstellung von Geschehnissen bzw. Handlungsabläufen – liefert das Umfeld und überlässt die Bewertung dem Betrachter bzw. Leser.
Mehr soll nicht verraten werden... außer:
Der Roman endet tragisch – äußerst schmerzvoll. Eine Verkettung unglückseliger Zustände und Ereignisse – die Reaktion eines Opfers, das zur Täterin wird (auf dem Hintergrund authentischer Ereignisse ) wurden von der Autorin penibel aufgearbeitet und kompetent umgesetzt.
Mariella Mehr: „Angeklagt“, Roman, 140 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kampa unter Verwendung eines Photos von Berno Hjalmrud /Photonica
Verlag Nagel & Kimche, ZürichISBN 3-312-00294-X
Fasse ich die einzelnen Bände der Trilogie zusammen, so fließen geschichtshistorische Elemente, persönliche Erfahrungen und Erlebnisse sowie Recherchen, durch schriftstellerisches Handwerk gekonnt umgesetzt, in einen Themenbereich, der bis in die Gegenwart brisant und höchst aktuell ist.
Unverständlich ist mir, dass eine zweimal vergriffene Ausgabe („Daskind“) nicht ein drittes Mal aufgelegt wird.
[*] Diese Rezension schrieb: Hartmut T. Reliwette (2004-10-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.