Der Roman beschreibt das Leben von Anna, die in der bademedizinischen Abteilung eines Sanatoriums arbeitet, zu dem auch ein Hotel gehört... Dieser Mischkategorie begegnet man in verschiedenen Kurorten. In ihrer Freizeit beschäftigt sich die Protagonistin mit fleischfressenden Pflanzen, die sie in einem überlassenen Teil des Treibhauses züchtet, welches zum Hotelbetrieb gehört.. Sie hat ein reges Interesse daran Buch zu führen über die Länge des Todeskampfes der Insekten, die auch schon mal als Fütterungsopfer Verwendung finden. Die Autorin beschreibt minutiös die verschiedenen Arten
und Fangmethoden dieser mysteriösen Pflanzengattung, die durchaus auch ohne
fleischliche Zunahrung überleben kann.
Alsbald nach der Einführung ist zu lesen:
„Ich bin Anna. Anna Priska Kreuz.
Der Tod“.
Nun könnte der Leser dem Irrgauben verfallen, er habe die Einführung in einen Krimi-Thriller gelesen: Hier spricht nicht Edgar Wallace, sondern die Autorin, die „Daskind“ verfasst hat – Mariella Mehr oder eben Anna Priska Kreuz, was nicht das selbe sein muss.
Eine „normale Liebesbeziehung“ zu einem männlichen Pendant pflegt Anna nicht. Zuweilen „zerrt“ sie den Gärtner in ihr Treibhaus, „nimmt ihn sich vor“, „befindet“ sich mit ihm „im Krieg“. „Ausziehen darf er sich nicht“. „Der Geschlechtsakt, bei dem er sich nicht bewegen darf, gleicht einem „Verdauungsakt“ der Karniforen“; sein Glied nennt sie „Bub“ – „Glück will nicht aufkommen bei ihr“, „das Glück hält sich im Niemandsland verborgen“.
In ihren unsteten Erinnerungen taucht Franziska auf, eine Mitbewohnerin eines Mädchenpensionates, in das Anna gezwungen wurde – damals. Franziska, die aus „ihrer Geschichte Wörter, Sinnketten an Anna herantrug“ – sie mit ihrer Leidensgeschichte konfrontierte, an sie – die selber Opfer wurde. Stockschläge aus der Hand einer Ordensschwester? So hat Anna es in ihrer Erinnerung – und noch mehr. Franziskas Leben: Eine Aneinanderreihung von Qualen und Erniedrigungen, auch im Angesicht des Kreuzes, das keine Linderung vermittelt.
Ihre Haut ist fast vollständig mit Schorf bedeckt. ( Wie heißt es? Die Haut ist Ausdruck der Seele. Die Ärzte benennen die Hauterkrankung lateinisch mit Neurodermithis ,Anmerkung des Unterzeichners).
Eine Patientin betritt die Szene, an den Rollstuhl gefesselt, körperlich
zerschunden, die Folgen eines Unfalls? Sie erinnert Anna an Franziska, auf unerklärliche Weise. Anna taucht wieder ab in die gemeinsame Geschichte, damals im Pensionat. Der Psychologe Lodemann ist da, der nicht in die Psyche der Mädel dringen kann, weil sie nicht reden wollen. Dann die Erinnerung an ein gemeinsames Spiel, das sie „kreuzigen“ nennen, ihr Versteck, ihre verbotene Mädchenliebe, wenn Franziska auf dem selbstgebastelten Kreuz liegt. Franziska scheint ihrer Büßerrolle gerecht zu werden. Die Erinnerung geht noch weiter zurück, an einen Wohnwagen, in welchem die Mutter sich betrinkt. Eines Tages legt die junge Anna Feuer. Der Vater gilt als Brandstifter – nachdem er sich mit dem Gewehr erschossen hat und als Zeuge nichts mehr taugt. Die Mutter wird gerettet, büßt ein Augenlicht ein infolge des Brandes.
Aus einzelnen Zerrbildern setzt sich ganz allmählich ein Puzzle zusammen.
Eine Ostjüdin hat der Psychologe die Franziska genannt, die mit dem neuen Namen nichts anzufangen weiß. Offensichtlich hat der Psychologe eigene Probleme...
Die Neue gehört zu den Patientinnen, um die sich Anna zu kümmern hat. Immer wieder erinnert diese sie an Franziska. Einmal zerquetscht sie einen Vogelkadaver vor den Augen einer anderen Patientin: Gertrud, die von einer einsetzenden Ohnmacht gerettet nicht mehr mitbekommt , wie der tote Vogel im Abfalleimer landet. Danach geht Anna übergangslos mit ihren Verrichtungen voran, keiner Schuld bewusst, weil sie dem Vogel nichts anderes antut als was man den Menschen antat, “die ermordet, zu Hunderten zwischen Tierkadavern und Unrat verrotteten“. Dieser Gertrud scheint sie sich anzuvertrauen wollen wohl wissend, sie mit ihrer Geschichte zu überfordern. Gertrud indes argwöhnt, dass Annas merkwürdiges Verhalten der Zugehörigkeit zu einer Sekte zuzuordnen sei.
Auch den Tod ihrer Leidensgenossin, Franziska, hatte ein anderer verantworten müssen, der mehr oder weniger zufällig in der Nähe des Geschehens anzutreffen war; der Anstaltspsychologe, der ihrem Geheimnis nachstellte, das er in ihr vermutete und welches für ihn in ihrer Psyche verborgen schien. Hier war sie oder an anderer Stelle, „die Retterin, die an Franziskas Körper den hingemordeten Gott rächte“. Schuld und Lust, Schmerz und Vergnügen wurden eins“.
Die christliche Lehre vom Heil der Welt durch das Kreuzigungsphänomen zu Golgata, verkündet durch den Katholizismus, hat die junge Anna nicht erreicht,
bestenfalls ein Erlösungssyndrom bei ihr ausgelöst: Es heißt töten.
Aus den Einblendungen offenbart sich dem Leser ein erschreckendes, zusammenhängendes Lebensbild eines heranwachsenden Mädchens, das aufgrund seiner Lebensbedingungen, unter denen sie aufwächst, das Töten als Stellvertreterfunktion für sich und eine Notwendigkeit entdeckt, geschundene Kreatur vom Leid zu erlösen; ein Zustand, der auch die inzwischen im fortschreitenden Alter befindliche Anna immer wieder einholt.
Erschreckend ist diese Erzählung, die mehr eine Rechtfertigung Annas beschreibt für die Gewalt, die sie anderen antut.
Annas Entlassung aus dem Pflegedienst steht bevor. Ehe sie weggeht, sucht sie noch einmal das Gewächshaus auf...
Erschienen im Verlag Nagel&Kimche, Zürich, gebunden mit Schutzumschlag, 189 Seiten . Umschlaggestaltung: Layout Liaison Corinne Oetiker & Ronny Stocker unter Verwendung des Gemäldes „Zwei Mädchen“, ISBN 3-312-00237-0
[*] Diese Rezension schrieb: Hartmut T. Reliwette (2004-10-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.