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Cornel Meder - Man schreibt lieber über Kollegen, die länger schon abgestorben sind...

Wie eine Besprechung für noch nicht „abgestorbene“ Kolleginnen und Kollegen abzufassen ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Im Falle von Cornel Meders „Reisiger“ scheint dies leicht. Der Erzähler teilt seinen Leserinnen und Lesern einfach mit, wie er literaturkritisch behandelt werden möchte.

„Noch einmal zur Literaturkritik. [...] Da wir so wenige sind, da wir so bedürftig sind, ist eine Art der Kritik geboten, die sich nicht an doktrinäre Herangehensweisen hält – wir brauchen alle Darlegungen zu den Motivationen und den Intentionen des Autors, mit quasi liebevollen, jedenfalls fördernden (nicht demotivierenden) Darlegungen – appetitanregende Sympathiekundgebungen – und nur in extremen Fällen ablehnende Äußerungen – wenn das 'Werk' auch dem günstig Gesinnten indiskutabel erscheint. (Meder: 2007; 71).

Einer solchen Forderung nachzukommen, ist dann natürlich doch nicht so leicht. Eine nicht-doktrinäre Herangehensweise kann dem Autor vielleicht noch gewährt werden, ebenso das Versprechen das Gute in den Vordergrund zu stellen – zumindest so weit, dass die zu verfassende Besprechung noch immer der Textsorte „Literaturkritik“ genügt. Es erscheint mir jedoch wenig sinnvoll über Intentionen und Motivationen des Autors zu sprechen. Ein derartiges Manöver führt in den meisten Fällen in die Gewässer der Autorenbiografie. Diese sind im Normalfall leicht zu durchwaten und einigermaßen sicher, doch wird man/frau sich immer nur am sicheren Rand entlang tasten und niemals in tiefere Gewässer vorwagen. Die geneigten Leserinnen und Leser sind bei der Lektüre von Cornels „Reisiger“ vor solchen Überlegungen sowieso nicht gefeit. Es ist nicht immer leicht den Autor Meder und den Erzähler Jansen auseinander zu dividieren. Wer den biographischen Abriss am Ende des Bandes zuerst liest oder den Autor mittelbar respektive unmittelbar kennt wird dies nachvollziehen können.

„Reisiger - Aufzeichnungen“ handelt von zwei kinderlos gebliebenen Ehepaaren, den Reisigers und den Jansens. Reisiger und Jansen kennen sich bereits seit der frühesten Schulzeit und sind so etwas wie Lebensfreunde geworden. Beide stehen kurz vor dem Abschied aus dem Staatsdienst in den wohlverdienten Ruhestand; beide beschäftigen sich mit der Literatur von Thomas Mann und Robert Walser. Die Rollen zwischen Ehemännern und Ehefrauen sind klassisch verteilt: Reisiger und Jansen sind im Austausch für die literarische und kulturelle Produktion zuständig, die beiden Frauen, die namentlich nicht erwähnt werden, haben die Funkion der Sekretärinnen und Ehefrauen; sie sind quasi die unauffälligen, ambivalenten besseren Hälften mit großem Drang zu eigenen Projekten. Jansen und Reisiger wandern zu verschiedenen Kongressen, bereiten sich mehr oder weniger stillschweigend auf den Ruhestand vor, diskutieren bei langen Waldspaziergängen weniger über Gott, aber umso mehr über die Welt. Die Liebe zum gelesenen und selbst geschriebenen Wort steht ebenso im Vordergrund. Nebenbei mischen sie sich noch ein wenig in die Kulturpolitik der Heimatgemeinde ein, wenn auch ohne großen Erfolg. Das Quartett genügt sich selbst und führt ein beschauliches Leben.

Aus dem Nichts tauchen zwei vermeintliche Kinder aus Tübinger Studientagen auf, die sich auf die Suche nach ihren luxemburgischen Vätern begeben und gleich einmal ein Haus in der Nachbarschaft beziehen respektive von den Neovätern dort einquartiert werden. Am Ende kommt alles wie es kommen muss. Die Lebensfreunde Jansen und Reisinger gründen mit ihren Frauen einen gemeinsamen Haushalt in einem ehemaligen Pfarrhaus., eine Art luxemburgische Pensionist/innen-Wohngemeinschaft akademisch-humanistischer Prägung.

Die Handlung wird gerahmt durch die wiederholten Verweise auf den Irakkrieg und die Bush-Sohn-Administration. Sie sind die Indizien für die erzählte Zeit. Andere Datumsangaben, wie sie in Tagebüchern zu erwarten sind, fehlen zur Gänze und werden durch punktuelle Ereignisse und die Angabe der Jahreszeit ersetzt. Durch den Aufzeichnungscharakter, durch das Fragmentarische und das vordergründig Zusammenhanglose der einzelnen Eintragungen geht ein klassischer Erzählfluss verloren. Die Brüche auf der einen Seite, die immer wieder auftauchenden Themen auf der anderen Seite, machen aus der Lektüre tatsächlich eine regelrechte Lesearbeit. Das Spannende liegt im Verschwiegenen, im nicht Gesagten. Zusammenhänge müssen erst hergestellt werden. Vermeintlich Holperndes und Plötzliches wird zum Stilmittel. Wenn Sie jemals ein Tagebuch lasen, das nicht mit Blick auf eine (eventuelle) Veröffentlichung geschrieben wurde, wissen Sie was gemeint ist...

Diese Lesearbeit wird durch den lakonischen Stil der Eintragungen noch einmal gefördert. Leicht abgewandelte und verballhornte Redewendungen wie „Wir schütteln beide unsere sehr weisen Köpfe, trinken einen goldigen Orangensaft und lachen wie die Krähen“ zeigen, dass der Autor/Erzähler einen gewissen Reiz am Wortspiel hat. Man schüttelt bekanntlich das weise „Haupt“, „goldig“ konnotiert nicht unbedingt eine Farbe oder ein Metall und das “Lachen der Krähen“ kann eigentlich nur eine Art Krächzen sein. Der Stil des Erzählers ist vielleicht nicht immer glatt poliert, eher grob gehobelt und dennoch passend zum Ton des Buches. Die Spachspielereien werden genüsslich weitergeführt und münden in einer Fülle an Luxemburgismen, wie sie in der hiesigen Tagespresse in Hülle und Fülle vorkommen. Das „Demissionsschreiben“ , „jemanden auf die Schippe nehmen“ und das berühmt-berüchtigte „offerieren“ - um nur einige wenige zu nennen - erfüllen in dieser Geschichte ihren Zweck und sind meiner Meinung keine sprachlichen Hoppalas. Die „Velozipedisten“ setzen dem ganzen Treiben die sprachliche Großherzogstumskrone auf.

Der selbe grobe Holzschnitt wird bei der Zeichnung von Handlung und Charakteren eingesetzt. Einige Ungereimtheiten bezüglich der Handlung und der doch immer wieder sehr karg skizzierten Personen kommen sporadisch vor. Vor allem die gegen Ende der Aufzeichnungen angestellte Privatsekretärin „Matura“ scheint etwas unglaubwürdig in ihrer Zeichnung. „Eine gebildete, verständnisvolle, sachkundige Frau – gelernte Bibliothekarin, alleinerziehende Mutter, Mitte fünfzig.“ (S. 85), die dann wochenlang in Tübingen in vertrauensvoller Mission recherchiert. Über den Verbleib des Kindes darf spekuliert werden. Der Erzähler tut es nicht.

Auch die Eigencharakterisierung der beiden Haupthelden als „Don Pansa“ und „Sancho Quijote“, die „beide der freiheitlich-sozialen, gebildeten Wertegemeinschaft“ angehören (S. 61), kann nur als selbstironisch aufgefasst werden, zumal wenige Zeilen vorher Thomas Bernhard, der große Übertreibungskünstler Erwähnung findet.

Als Leser stand ich im Laufe meiner Lesarbeit mehrmals vor der Wahl: Ich konnte mich auf das Spiel mit den inhaltlich, wie sprachlich sehr grob gearbeiteten Aufzeichnungen einlassen oder diese ablehnen. Es ist leicht Meders „Aufzeichnungen“ - eine andere literarische Gattung wäre unpassend – abzulehnen. „Reisiger“ ist nicht nur eine Erzählung in Form von Aufzeichnungen, sondern ein Spiel mit der Form und der Sprache und letztendlich mit der Textsorte „Tagebuch“, sowie dem (sprachlichen) Habitus jener, die sich in Luxemburg zu den „Schriftgelehrten“ zählen.

Cornel Meder
Reisiger. Aufzeichnungen.
Editions Le Phare, 2007.
ISBN: 978-2-87964-102-7

[*] Diese Rezension schrieb: Thierry Elsen (2007-12-30)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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