Das Warten auf jedes neue Buch des englischen Schriftstellers Ian McEwan lohnt sich. In großer Regelmäßigkeit legt er handwerklich perfekte Romane vor, deren Zauber und sachlicher Präzision man sich nicht entziehen kann. Er schreibt in einer verständlichen Sprache, er analysiert kühl sowohl gesellschaftliche Verhältnisse wie menschliche Beziehungen und Seelen. Wer das große sprachliche, gar poetische Kunstwerk sucht bei Romanen, wird bei den Büchern von Ian McEwan mehr oder weniger enttäuscht werden.
So ist es auch bei seinem neuen Roman „Kindeswohl“, nun im Taschenbuch verfügbar, dessen eröffnende Sätze sehr typisch sind für McEwans ganzen Stil: „London. Sonntagabend, Eine Woche nach dem Ende der Gerichtsferien. Nasskaltes Juniwetter. Fiona Maye, Richterin am High Court, lag zu Hause auf der Chaiselongue und starrte über ihre bestrumpften Füße hinweg quer durch den Raum.“
McEwan geht sofort mitten hinein in die Szene und das Leben seiner Hauptpersonen. Fiona, 59 Jahre alt, hat soeben einen schrecklichen Streit hinter sich gebracht mit ihrem Mann, einem 60-jährigen Professor für Alte Geschichte, der ihr ganz locker gesagt hat, er wolle eine Affäre mit einer wesentlich jüngeren Frau beginnen. Das sei sein Recht, er wolle noch einmal richtig Sex, an dem sie ja wohl kein Interesse mehr habe.
Fiona wirft ihren Mann aus dem Haus und ergeht sich in Überlegungen über den körperlichen Verfall im Alter. Doch für weiteres Selbstmitleid fehlt ihr die Zeit, es stehen wichtige Entscheidungen an bei Gericht.
Da ist der 17- jährige Sohn von zwei Zeugen Jehovas. Damit sein Leben gerettet werden kann, braucht er dringend Bluttransfusionen. Das lehnen aber sowohl seine Eltern, als auch der Junge selbst heftig ab mit Verweis auf ihre Religion. Die Klinikverwaltung will per Gerichtsentscheidung erzwingen, dass Fiona dieses Recht auf körperlicher Selbstbestimmung aufhebt. Wie schon 2005 in „Saturday“ (damals ging es Gehirnchirurgie) von McEwan bis ins Kleinste recherchiert, wird der Leser staunender Zuschauer einer Verhandlung, einem juristischen Konflikt um Leben und Tod.
Die Zeit drängt, doch bevor Fiona eine Entscheidung fällt, nimmt sie ihr Recht wahr, und besucht den kranken Adam in der Klinik. Als sie, aus ihrer professionellen Rolle fallend, den Jungen singend begleitet, als der ein von Benjamin Britten vertontes Gedicht von Yeats auf seiner Geige spielt, passiert in der Beziehung der beiden etwas Entscheidendes, das den weiteren Verlauf der Handlung des Buches wesentlich beeinflussen wird. Neben dieser sich langsam aufbauenden Dramatik beschreibt McEwan immer wieder andere Gerichtsfälle, wo es um das „Kindeswohl“ geht. So interessant das auch ist, es lenkt ein wenig ab vom dem eigentlichen Thema: wie Fiona Maye die Begegnung mit dem jungen Adam erlebt und bewältigt.
Doch bei aller Kritik im Detail: Ian McEwan hat wieder einen großen Roman geschrieben und zeigt sich als Könner und Meister seines Faches
Ian McEwan, Kindeswohl, Diogenes 2016, ISBN 978-3-257-24377-2
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2016-08-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.