Es gehört eine Menge Selbstvertrauen dazu, mit nur 37 Jahren sich ein einen Roman zu wagen, der eine Figur zum Thema hat, die real und legendär war. Der irische Schriftsteller Colum McCann wählte als Stoff das Leben des Rudolf Nurejew, der 1993 gestorben war und zu den phänomenalsten Gestalten des Ballet gehörte. Niemand hat das Publikum mehr fasziniert und gespalten, nahezu außerirdisch durch seine Bühnenpräsenz und kaum zu ertragen durch seinen Egoismus, seine Exzesse und seine Rücksichtslosigkeit.
Colum McCann hat sich bei der Komposition des Romans für einen multiplen Perspektivismus entschieden, in dem er Zeitgenossen und Lebensgefährten erzählen lässt. Der Protagonist bleibt Nurejew, der jedoch nie unmittelbar auftritt, sondern dessen Partitur gestaltet wird von Edelkomparsen, die die einzelnen Figuren zu einem Ganzen zusammensetzen. Daraus entsteht ein Bild, das fasziniert und gleichzeitig entmythisiert, der alles überragender Tänzer wird eine reale Gestalt, mit ihren Fähigkeiten, Gebrechen und Wunden.
Die Biographie des Tänzers ist ein Dokument des 20. Jahrhunderts, in seiner Zerrissenheit und Absurdität, in seiner Einfalt und Freiheit. In seiner Heimatstadt Ufa, der Waffenschmiede der UdSSR, tanzt Rudnik Nurejew bereits als kleines tatarisches Kind vor den die Lazarette überfüllenden gemetzelten Rotgardisten, die von der Front zurück gebracht werden. Gegen die Widerstände des Vaters, der, wie sollte es anders sein, den begabten Rudnik lieber als Ingenieur oder Arzt gesehen hätte, nimmt er heimlich Tanzunterricht bei Dissidenten, schafft den Sprung nach Leningrad ans Kirow-Theater, leidet unter dem Rigorismus des Regimes, dem natürlich die Homosexualität Nurejews ein Dorn im Auge ist und flieht folgerichtig bei der ersten Auslandstournee in Paris.
Es folgt ein Siegeszug um die Welt, Paris, London und New York werden seine Domizile, er erlangt Ruhm und Reichtum, lebt exzessiv und grotesk. Seine sexuellen Extravaganzen erschüttern selbst das liberale New York, doch dem Magier der Bühne wird alles verziehen. Es ist nicht die künstlerische Qualität, die seinen Ruhm begründet, sondern seine magische Präsenz, die einzigartig ist und ihm Auftritte wie in Wien beschert, nach dem er 89 Vorhänge bekommt!
Der Stachel im Fleisch Nurejews bleibt die Trennung von der Familie, das Wissen um die Trostlosigkeit ihres Daseins und seine Machtlosigkeit, daran etwas zu ändern. Viele seiner Extravaganzen erscheinen als Kompensationshandlungen für diese Impotenz, das Unvermögen, das Schicksal zu ändern. Nurejew hört nicht auf zu tanzen, als es an der Zeit ist, er geht den langsamen Weg nach unten, ohne sich zu beklagen, und stirbt mit 55 als Tribut an seinen exzessiven Lebenswandel.
Colum McCann ist ein Roman gelungen, in dem der Konnex von Ruhm und Verletzlichkeit so deutlich wird wie selten.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2010-09-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.