Eigentlich ist der Titel „Die Wunde“ fast zuwenig, müsste „Die Wunden“ heißen, denn mehr als eine innere Verletzung wird im Buch auftauchen, aufbrechen, zeigen, dass sie nicht verheilt sind. Zumindest zwei „Wunden“ trägt eine der Hauptfiguren dieser sprachlich ganz hervorragend erzählten Geschichte von Mauvignier in sich.
Das eine ist die familiäre Wunde, das andere die Kriegswunde. Tiefe Wunden, so, wie es schon im Auftritt Bernards auf einem Familienfest deutlich wird.
„Es brauchte eine Weile, bis das Erstaunen so groß war, dass das Hin und Her, die Blick, die Sätze abbrachen.... Es brauchte etwas anderes als eine bloße Geste oder ein Lachen, ein Aufschrei war nötig“. Doch so laut kommt er gar nicht, der Aufschrei. Erst allmählich betrachten die anderen Familienmitglieder Bernard näher.
Er, der von Kindheit an so etwas wie das „schwarze Schaf“ der Familie war (und geblieben ist). Der immer etwas Raues hatte und in erwachsenen Jahren dann völlig entgleiste. Er, der sich gerne dem Alkohol hingibt, ungepflegt, verwahrlost auftritt, sein Leben irgendwo am Rande lebt. Der taucht nun auf wie ein Mensch, wundert man sich.
Gut gekleidet. Sauber. Wohl fast nüchtern. Und schenkt seiner Schwester Solange sogar ein wertvolles Geschenk. Umgehend wandelt sich die leichte Verblüffung auf dem Familienfest wieder in die gewohnte Herablassung, Stichelei, feindselige Blicke. Vielleicht auch, weil dieser „Habenichts vor den Augen all derer, die ihm einst Almosen in die Hand gedrückt hatten, eine Brosche schenkt, die keiner der anderen je hätte schenken können“.
Doch Mauvignier geht einen Schritt weiter als diese schon im inneren Drama angelegte Familiengeschichte. Er verknüpft die „kleine“ innere und traumatische Grausamkeit der Familienfiguren mit der „großen“ Grausamkeit und dem fast „französischem Volkstrauma“ des Algerienkrieges.
Denn etwas anderes noch öffnet in Bernard an diesem Abend die innere Wut. Die Familie, das ist er gewöhnt, diese Wunde sticht vielleicht noch, aber liegt nicht so offen, so fleischig im Raum, wie die andere Wunde, jene, aus den Kriegsjahren in Algerien, in denen er blutjung Grausamkeiten erlebt und ebenfalls grausam gehandelt hat. Bereits nun aber angestachelt von den abfälligen Bemerkungen und der feindseligen Bemerkungen entlädt sich seine Wut gegen einen jungen Algerier, ebenfalls Gast auf dem Fest und im Lauf des Abends wird dieser rote Schleier vor seinen Augen weiter eskalieren.
Warum das so ist, das erzählt Mauvignier in Rückblenden in die Jahre 1960-62 hinein, die aktiven Kriegsjahre des Bernard, der mit seinem Cousin Rabut in Algerien zu kämpfen hatte. Erlebnisse und Zeiten, die Bernard gründlich aus der Bahn geworfen haben, die ihn zu jenem offenkundigen Wrack haben werden lassen, als der er nun einmal bekannt ist. Nie aufgearbeitete Erlebnisse, nie ausgesprochene Verletzungen, die faulen und schwären.
Diesen Teil der Geschichte erzählt Mauvignier aus der Sicht Rabuts, durch dessen Augen das innere Drama Bernards im Lauf der Seiten erklärbar wird. Erlebnisse, die mit flauem Gefühl gelesen werden, denn die nackte, grausame Realität dieses brutalen Vorgehens gegen die algerische Befreiungsbewegung erspart Mauvignier dem Leser nicht. Unverdautes im „Kleinen“ der Figuren im Roman und im „Großen“ der Geschichte Frankreichs.
„Zum ersten Mal sagte ich mir, dass ich vielleicht gern noch einmal dorthin reisen würde und dass ich gerne sehen würde ....... ob es Kinder gibt, die barfuss mit einem Fußball spielen“. Wünscht sich Rabut zum Ende des Romans hin. Andere Bilder im Kopf zu haben als jene aus seiner Zeit des Krieges.
Das wäre gut, dieses Hinsehen und Aufarbeiten. Ein Aufarbeiten, das Mauvignier anstößt mit seinem Roman. Wobei er in seinen Themen durchaus vordergründig französisches Leben und französische Geschichte anspricht, in der Tiefe aber universale Themen verarbeitet.
Nicht nur Algerien hat ein Trauma hinterlassen, auch Afghanistan, Irak, Libyen, überall da, wo junge Menschen Krieg erleben, die zivilisierte Tünche brüchig wird, spielt dieser Roman. Und überall da, wo nicht verstanden, nicht geredet, nicht gesehen wird, dass Menschen, die sich anders, abstoßend verhalten, dafür Gründe in sich tragen.
In nicht einfacher Form, manchmal durchaus sperrig in den Worten formuliert, in den Bildern (die auch im Buch eine direkte Rolle spielen) nicht einfach zu ertragen, zieht Mauvignier den Leser tief mit hinein in eine Welt innerer Wunden und nicht ausgesprochener Verletzungen, die Menschen für ihr Leben prägen und lebenslang verbleiben. Ein sehr empfehlenswertes Buch.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2011-11-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.