André Breton und Antonin Artaud sollen einmal miteinander im Taxi gefahren sein. Das war nach dem Krieg, als Artaud gerade aus Rodez, der Irrenanstalt nahe Paris, entlassen worden war. Breton, der „Chef“ der Surrealisten hatte ihn in den letzten neun Jahren, in denen Artaud zwar den Krieg überlebt hatte, die Irrenanstalten aber nur unter großem seelischen Schaden, kein einziges Mal besucht oder ihm auch nur eine Zeile geschrieben. „Breton ist gestorben“, meinte Artaud zu dem ihm gegenüber sitzenden Breton in jenem Taxi. „In Le Havre ist er beim Versuch, mich aus den Händen der Polizei zu befreien, erschossen worden“, erzählte Artaud dem verblüfften Breton, der alles von sich wies. Artaud hatte Breton in seiner eigenen Gegenwart sterben lassen, er klagte ihn nicht direkt des Verrates an der Freundschaft an, die dieser in den letzten Jahren begangen hatte, sondern vermittelte seine Gefühle qua poetischer Gerechtigkeit.
Im Taxi mit dem toten Breton
Die kleine Episode, die in vorliegendem Band mit Beiträgen verschiedenster Autorinnen und Autoren aus Anlaß einer Ausstellung zu Leben und Werk Artauds erschienen sind, zeigt die Fragilität und Sensibilität eines der wohl verkanntesten Genies der französischen Zwischenkriegszeit. Jacques Lacan, der berühmte Psychiater und spätere Psychoanalytiker, erklärte Artauds Wahnsinn für so ausgewachsen, dass sich dieser in seinen Fantasien eingerichtet habe. „Sein Wahnsinn ist irreversibel“ konstatierte Lacan apodiktisch und Artaud werde nie mehr schreiben, so die selbstsichere Diagnose Lacans. Ganz anders verhielt es sich dann in der Realität: die drei Jahre, die Artaud in Rodez verbracht hatte und die zwei Jahre nach seiner Rückkehr nach Paris bis zu seinem Tod gehörten - laut Sylvere Lotringer - zu den produktivsten seines Lebens.
Elektroschocks von falschen Freunden
Der Arzt, der Antonin Artaud insgesamt 51 Elektroschockbehandlungen zukommen hatte lassen, schrieb sich diesen Erfolg – die neu erwachte Produktivität Artauds, der nun nicht mehr nur schrieb, sondern auch zeichnete – natürlich auf seine Fahnen und wollte damit die erfolgreiche Therapie gleichsam bewerben. Aber auch Dr. Ferdiere hattte die Freundschaft zu Artaud ausgenutzt, ihm das Geständnis zu entlocken, er fühle sich immer noch von okkulten Mächten verhext. Ferdiere nahm diese gerne zum Anlaß seine erfolgversprechende Therapie weiter fortzusetzen. Natürlich klagte Artaud Ferdiere nach seiner Genesung öffentlich an, denn für ihn war das eigentliche Ziel der Psychiatrie nach wie vor nicht die Heilung des Patienten, sondern die Durchsetzung ihrer eigenen Legitimität auf deren Kosten. „Die Medizin ist aus dem Bösen entstanden, nicht aus der Krankheit, im Gegenteil, sie hat die Krankheit ausgelöst und aus dem nichts geschaffen, um ihre eigene Existenz zu rechtfertigen“, so Artaud in seinem 1946 entstandenen Werk „Van Gogh oder Selbstmörder durch die Gesellschaft“.
Testament eines Phänomens
Mehr als ein Dutzend Autoren beschäftigen sich in der vorliegenden Publikation des Matthes & Seitz Verlages mit dem Phänomen Antonin Artaud. Der Hardcover-Band ist illustriert und erzählt von dem Autor folgender Zeilen, wie man sich selbst ein Denkmal setzt, ohne es zu wollen: „Wenn ich mich mich denke, sucht sich mein Denken im Äther eines neuen Raums. Ich bin auf dem Mond wie andere auf ihrem Balkon. In den Klüften meines Geistes nehme ich an der planetarischen Gravitation teil.“ Sein Testament könnte sich in folgenden Worten finden lassen: „Die Zeit mag vergehen und die sozialen Konvulsionen der Welt das Denken der Menschen verwüsten, ich bin außerhalb jedes Denkens, das in den Erscheinungen versinkt. Man überlasse mich meinen trübsinnigen Träumereien, meiner unsterblichen Ohnmacht, meinen unsinnigen Hoffnungen. Aber man soll wissen, dass ich keinem meiner Irrtümer entsage.“
Bernd Mattheus/Cathrin Pichler
Über Antonin Artaud
Matthes & Seitz
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-02-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.