Im Kern ging es um die Frage, ob Geld ein Medium zur Aufbewahrung von Werten ist, oder ob es, wie Martin behauptet, nichts als eine Maßeinheit ist. Einheiten an sich sind doch ohne Wert! Ein Zug, der in einer Stunde 200 Kilometer fährt, dieser Zug ist schnell. Aber „200 km/h“ sind nicht schnell, sie sind eine Maßeinheit, die eine Relation zwischen verschiedenen Dingen bezeichnet.
Martin ist so etwas wie ein Eliteschulen-Wunderknabe, eine Sorte Publizist, die es in Mitteleuropa wohl nie gab, nicht geben kann. Ein, glaubt man dem Umschlagfoto der deutschen DVA-Ausgabe, schnittig, attraktiv und sympathisch aussehender Blitzgescheiter, der seine Brötchen weiterhin mit Anlagetipps verdienen könnte, vielleicht auch noch, wie früher, für die Weltbank tätig sein könnte, der, außer Wirtschaftswissenschaften, auch noch Altphilologie studiert hat, der seine Artikel der Financial Times oder dem New Statesman verkauft, sich intellektuell und rhetorisch nicht auf jenem Klippschulniveau zentraleuropäischer Fernsehschaffender bewegt, die weiterhin glauben möchten, je mehr Schulden und Daseinsfürsorge ein Staat wie Deutschland wegkappt, desto reicher wird er auch, je mehr Maschinen man an Italien oder Spanien verkauft, desto dito. Felix Martin ist ein Erforscher des Geldes, der weit zurück in archaische Gesellschaften blickt, seinen historischen Bogen spannt, der aus Kapiteln mit Cliffhanger-Schlüssen besteht. Sein Buch soll uns amüsieren und uns intellektuell dazu was abverlangen. Das klappt auch, bis hin zur erwähnten Konfrontation zwischen den Briten.
Dann allerdings, und bis zum Fluchtpunkt Finanzkrise 2007 bis 2011, den ein 2013 erschienenes Werk selbstredend anbieten muss, zerfällt ihm die Populärwissenschaft von Kapitel zu Kapitel. Martin würde am liebsten behaupten, weil er die fast vergessenen Sitten und Gebräuche aus der Urgeschichte des Finanzmarkts ausgegraben hat, wisse er jetzt, wie noch mal eine Verwechslung zwischen Wert und Wertmaßstab gebannt werden kann. Aber das tut er nicht. Was die Wirtschaftsweisen zwischen EZB, Wall Street, Basel III und Peking nicht so recht in Griff kriegen, kann Herr Martin aus London ihnen nicht besser beibringen. Mithin ertrinkt sein Buch zum Ende hin in einem Nebel aus schön klingender Rhetorik und ziemlich schwabbeligen „Es ist nun Zeit für den Wandel“-Appellen. Schade, es war toll am Anfang.
Als Erstes hatte Martin von den Geldsteinen der Insel Yap im Pazifik (zwischen den Philippinen und Guam) erzählt. Dort wurden Werte in großen runden, in der Mitte ausgehöhlten Steinen versinnbildlicht, ähnlich wie Mühlsteine. Ein großer Geldstein ging beim Transport von einer zur anderen Insel verloren. Er fiel ins Meer. Was, unser Staunen beginnt hier, überhaupt nichts ausmachte. Es hatte doch nie irgendwer geglaubt, dass dieses Steinmaterial - nur so für sich - zu irgendwas nutze wäre. Es entstand kein Schaden, wenn man es nicht mehr anfassen konnte. Es wussten alle, dass es dort unten noch lag, dass es dieser und keiner anderen Familie gehörte. Das, deutet Martin an, ist ein zutreffender Begriff vom Geld. Nicht Geld ist der Wert, sondern es veranschaulicht einer Gesellschaft die sozialen Verbindlichkeiten zwischen ihren Menschen. Wer etwas zu bekommen hat. Wer reich ist und sich was leisten darf. Wer für die anderen Dienst zu tun hat. Solange die Leute auf Yap akzeptieren, dass die Familie superreich ist, weil sie den Stein auf dem Meeresgrund hat, ist sie reich.
Verrückt? Aber, was wirklich verrückt ist: Im Vereinigten Königreich ist seit geraumer Zeit der Wirtschaftsfaktor mit der größten Wertschöpfung, dem schnellsten Wachstum, den extremsten Gehältern, dem stärksten Braindrain hinsichtlich junger Genieabsolventen von den Hochschulen die „Finanzindustrie“. London ist einer der ersten Finanzplätze des Globus, der bedeutendste in Europa. Hätten die Briten nicht Öl und diesen Finanzmarkt, sie gingen am Stock wie Portugal und Griechenland. Die Metaphorik des Bankersprech kennt „Produkte“. Produkte waren es, die in den Neunzigern erst erfunden und dann explosionsartig vermarktet worden waren, die 2007 und 2008 einen Kollaps auslösten, den es ohne diese „Produkte“ nie gegeben hätte. Dahinter steckt die, so Martin, irrsinnige Annahme: Geld nur für sich, könnte von Wert sein, diesen eventuell noch vergrößern durch Multiplikation mit weiterem Geld. Ein Acker bringt Kartoffeln, aber ein Stein von Yap keine Seegurke. Den Leuten von Yap war das klar.
Nachdem Felix Martin uns Überraschendes von Sumerern, Babyloniern, Griechen, Römern, Chinesen, den italienischen Messebankiers im ausgehenden Mittelalter berichtet hat, langt er beim Vorrecht des europäischen Herrschers an, Herr des Geldes zu sein. Man nannte es Seigniorage. Der Monarch konnte den Preis festlegen, zu welchem Edelmetall angekauft wurde; er konnte den Edelmetallgehalt der Münzen verringern, wenn er knapp bei Kasse war. Er konnte Gold- und Silbertaler einziehen, die Ränder abhobeln lassen, um an mehr Edelmetall zu kommen. Alle Tricks verhinderten natürlich weder Depressionen noch Staatsverschuldung oder die Inflation. Zumal letztere seit der Renaissance zu einer Regel geworden war. Man hatte nicht begriffen, dass man das Silber und Gold Südamerikas dem europäischen Geldkreislauf nicht hinzufügen konnte, ohne den Maßstab realer Wirtschaftsleistungen, das Geld, zu verschieben.
Ob die Differenz zwischen Law und Locke wirklich so viel Geschichte gemacht hat oder ob sie von Martin hier nach vorn geschoben wird, um dem Buch romanhafte Züge zu geben, sei dahingestellt. Law hat dem französischen König erklärt, dass der Wert des Geldes außerhalb von ihm selbst zu suchen sei, es egal ist, ob mit Diamanten, Gold, Plastikchips oder Eurozetteln bezahlt wird. Ob ein Stein, mit dem gerechnet wird, auf dem Grund des Ozeans ruht. Kollege Locke hingegen hat es in London anders erzählt. Natürlich wäre Papiergeld an sich erst einmal nichts wert, Gold aber, das in den Kellern der Krone liege, dessen Wert bliebe konstant, daher sei ein König, der Gold kontrolliert, weiter Herr des englischen Reichtums. Gegen 1700 entstand in London, was Martin die „Große Monetäre Übereinkunft“ nennt, die Schaffung einer unabhängigen Schatzbank, welcher fiskalische Souveränität zugebilligt wurde. Der König überließ den Finanzsektor von nun an sich selbst, verzichtete auf Seigniorage, bildete mit dem Gold der Krone jedoch weiterhin die Basis der Transaktionen.
Die Edelmetalldeckung der Währung wurde in den großen Industriestaaten USA und Großbritannien erst etliche Jahre nach 1945 aufgegeben. Doch um voreiligen Schlüssen vorzubeugen: Felix Martin empfiehlt keine Rückkehr zum Goldstandard. Die Lehre des Steins von Yap war, dass es keine Rolle spielt, ob er wertvoll oder wertlos ist. Wäre unser Geld nur aus Gold und würden gleichzeitig mit einem Schlag (aus irgendwelchen Gründen) wir alle zur Annahme gelangen, dass die offenen Rechnungen morgen nicht mehr beglichen werden, die Monatsgehälter am Automaten nicht ausgezahlt, die Mieten nicht abgebucht, die Raten nicht abgestottert, wäre auch unser Gold an diesem Tag nichts wert. Was man mit Gold tun kann, kann man mit anderen Metallen auch.
Geld ist etwas anderes. Geld ist das Vertrauen, dass ein anderer Wirtschaftsbeteiligter so reich ist, dass er mir den Job morgen honorieren wird, den ich heute schon mache. So ein Vertrauen ist kein „Produkt“, das Broker „designen“ könnten zwischen ihren jährlich erwarteten „Bonus“-Bezügen.
Zitat:
Das eigentliche Ziel der Geldpolitik sind nicht Geldwert- oder Finanzmarktstabilität, sondern eine gerechte Gesellschaft und allgemeiner Wohlstand; und ganz gleich, wie weit dieses Ziel vom Alltagsgeschäft der Entscheidungsträger in den Zentralbanken entfernt sein mag, stellt es doch den einzigen verlässlichen geldpolitischen Leitfaden dar. Also ja, ich glaube, dass es an der Zeit ist, den Kult der direkten Inflationssteuerung aufzugeben und die Geldpolitik wieder auf ihre eigentlichen Ziele auszurichten - und den Zentralbanken zu erlauben, ein größeres Instrumentarium einzusetzen, um diese schwieriger zu erreichenden Ziele zu realisieren.
Das eigentliche Ziel der Geldpolitik sind nicht Geldwert- oder Finanzmarktstabilität, sondern eine gerechte Gesellschaft und allgemeiner Wohlstand; und ganz gleich, wie weit dieses Ziel vom Alltagsgeschäft der Entscheidungsträger in den Zentralbanken entfernt sein mag, stellt es doch den einzigen verlässlichen geldpolitischen Leitfaden dar. Also ja, ich glaube, dass es an der Zeit ist, den Kult der direkten Inflationssteuerung aufzugeben und die Geldpolitik wieder auf ihre eigentlichen Ziele auszurichten - und den Zentralbanken zu erlauben, ein größeres Instrumentarium einzusetzen, um diese schwieriger zu erreichenden Ziele zu realisieren.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-10-30)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.