Der ZEIT-Kolumnist und Feuilletonist par excellance Harald Martenstein geht gerne ins Kino und da in Berlin im Februar auch jedes Jahr die Berlinale, das Filmfestival der Hauptstadt, stattfindet, fällt es ihm leicht, seinem Hobby zu frönen. Die vorliegende Sammlung seiner Kino-Kolumnen beinhaltet Rezensionen aus den Jahren 1999-2015, allerdings nicht chronologisch geordnet. Neben einem Inhaltsverzeichnis mit den Titeln der Kolumnen gibt es auch ein Personenregister und ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis der im Film erwähnten Filmtitel. Der Egon-Erwin-Kisch-Preisträger beobachtet das oft eitle Geschehen mit kritischer Substanz und spitzer Feder und lässt seine Leserinnen und Leser auch an so manchen amüsanten Seiten diverser Premieren der Berlinale teilhaben.
Der gute Filmkritiker
Schreiben ist für ihn das Paradies, das verrät Martenstein schon auf den ersten beiden Seiten, und Kino eignet sich deswegen so gut als Gegenstand seiner Betrachtungen, weil es dort immer dunkel ist und er an und für sich ja ein schüchterner Mensch sei, wie er selbst schreibt. 100 Filme schaut er pro Jahr ca., aber das war in seinen - längst vergangenen – besten Zeiten. Einen guten Film beschreibt er als Suche nach etwas, nicht als Egotrip eines Regisseurs und er sei keinesfalls ein Spezialist, aber als gebürtiger Mainzer mache er sich eben am liebsten über Dinge lustig, die man im Grunde mag. Das sei dort so üblich. Seine Filmleidenschaft habe am Lido von Venedig angefangen, wo jedes Jahr die Biennale stattfindet. Er habe am Strand gelegen und sich die Filme von anderen erzählen lassen und danach seien Kolumne geschrieben. So oder so ähnlich könnte es jedenfalls gewesen sein.
Paradiso am Laufsteg
So widmet sich Martenstein etwa dem Berlin-Klischee, das immer in Bewegung sei. „Morbide Grundstimmung, wie in Wien. Aber Wien verfällt prächtiger.“ Martenstein schreibt sogar von der „Verostung“, aber die Kolumne stammt aus dem Jahre 1999, als der Kapitalismus selbst längst ein Ostler war, „der ein Penthouse in der Nähe der Hackeschen Höfe“ bewohne. Berlin 99 heißt die Kolumne und inzwischen ist der Prenzlauer Berg wirklich von Familien mit Kindern bewohnt. Da passt auch gut die Geschichte von der Treppe von Renzo Piano dazu, der die Treppe für Filmstars am Potsdamer Platz entworfen habe, obwohl er selbst gar kein Kinogeher sei, wie Martenstein verrät. Im Film „Paradiso“ entdeckt der Kolumnist die reinigende Kraft der Gewalt, wenn er schreibt: „Die Schlägerei verbessert das Vater-Sohn-Verhältnis deutlich. Gewalt ist manchmal doch eine Lösung.“ In einem anderen Film regnet es Frösche vom Himmel und „Gosford Park“ sei wunderbar frisch in seinem Klassenhass, aber altmodisch „in der subtilen Art, diesen Hass auszudrücken“. Andreas Veiels Film über die RAF hält er für den besten RAF-Film und zieht Parallelen zwischen dem Heldentum der einen Generation und dem ihrer Nazi-Väter. Aber „die Deutungshoheit für die Vergangenheit liegt zum Glück nicht bei denen, die dabei waren“, wie Martenstein freimütig zugibt. Ein kurzweiliges Lesevergnügen mit lustigen Betrachtungen über das Kino und seine gesellschaftlichen Verbindungen. Am gelungensten ist vielleicht „Lob des Schlussmachens“, das inhaltlich und formal schön zusammenfindet. Schreiben kann er halt, der Martenstein.
Harald Martenstein
Im Kino
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-570-10278-7
C. Bertelsmann Verlag
€ 16,99.-
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2017-10-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.