Zwei Hauptakteure und ein Ozean
In seinem populären Werk “Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger” enttäuscht Yann Martel philosophisch und überrascht biologisch. Die Verfilmung Ang Lee hingegen begeistert unentwegt.
Darin wehrt sich ein junger Inder 227 Tage gegen Durst, Hunger und Naturgewalten auf offenem Meer. Die Haupthandlung besteht aus den Schwierigkeiten dieses Überlebenskampfes und spielt sich auf wenigen Quadratmetern Boot zwischen einem Bengalischen Tiger und einem Indischen Jungen namens Pi ab.
Eine übersichtliche Kulisse, möge man meinen, die eigentlich viel Platz für Gedanken mit Tiefgang bietet. Der starke Wille des Schiffbrüchigen lädt zu Sinnfragen ein, denn auch der Leser wundert sich warum das Leben am Rande des Erträglichen immer noch lebenswert sein könnte. Oder wie man Zweifel und Hoffnung miteinander vereint, ohne den Glauben an sich, Gott und die Welt zu verlieren. Diesen besagten Glauben verspricht die Geschichte dem Suchenden wiederzugeben.
Doch nach philosophischem Diskurs such man vergebens, denn Martel bewegt sich höchst ungern im Abstrakten, bleibt lieber vage und nicht ausformuliert. Zu Beginn des Buches werden Weltreligionen angeschnitten und zum Ende der Drang des Menschen nach Wahrheit und Sinn, welcher ihn vom Glauben abbringt. Theorie und Rettungsboot schwimmen gleichsam an der Oberfläche. Das enttäuscht.
Stattdessen konzentriert sich der Blick auf das sehr Praktische und Alltägliche eines Schiffbruchs. Detaillierte Darstellung von fachlichen Anleitungen und technischen Tücken in der Routine eines Seemanns. Die Begeisterung des Autors für all diese zoologische und technische Kleinarbeit wirkt fast obsessiv. Dem Verlauf dessen zu folgen wird zwischenzeitlich sehr schleppend, doch es lohnt sich. Denn es dient dazu die Vorstellungskraft des Lesers mühsam zu zerstückeln und dann wieder zu einem erstaunlichen Bild zusammen zu setzen.
Martel bringt Mensch und Tier räumlich, wie auch gedanklich auf maximale Nähe, und verstrickt sie somit in einen erzwungenen Dialog. Dabei zeigt er die strategische, schon fast rational anmutende Seite des Tigers. Man beginnt das Tier zu verstehen, hört aber nicht auf es zu respektieren. Während der Tiger vermenschlicht, wird Pi von Tag zu Tag animalischer. Die Not treibt den Vegetarier zum Fischfang und Verzehr von rohem Fleisch.
Auf engstem Raum einander ausgesetzt verschwimmen die Grenzen zwischen Junge und Tiger, zwischen Zivilisation und Natur. Die Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier spiegeln sich auch in der Beschreibung der Nebenakteure wieder. Pi entdeckt Wassertiere, die auf „Autobahnen“ rasen; Erdmännchen, die sich „Großstädte“ schaffen; und Krebsfamilien, die in „Kommunen“ leben. Der Leser beginnt zu verstehen, dass Leben nicht natürlich oder zivilisiert ist, es ist immer beides. Somit erscheint im Laufe von 100 Kapiteln das Bild von einer Welt in der Grausamkeit und Schönheit, Gefahr und Organisation gleichermaßen Platz und Sinn finden.
Am Ende bietet Martel Zweifel und die Frage ob man tatsächlich 7 Monate auf einem Boot mit einem Bengalischen Tiger überleben kann. Biologisch möglich oder doch nur schriftstellerische Phantasie? Ist das Bild, das Martel zeichnet beschönigend oder realistisch? Eine richtige Antwort gibt es nicht und irgendwie spielt Wahrheit am Ende auch keine Rolle. Denn dort wo man nicht wissen kann, möchte man glauben; an Hoffnung, Sinn und im Zweifel auch an das Unglaubliche.
Fast unbemerkt erfüllt die Geschichte ihr Versprechen. Sie gibt dem Suchenden den Glauben wieder, an sich, an das Leben und vielleicht sogar an Gott. Doch Martel überzeugt nicht theologisch, sondern biologisch. Das fasziniert.
Kann man eine solch reichhaltige Gedankenwelt auf Kinoleinwand projizieren? Man kann. Jedoch reichen zwei Dimensionen dazu nicht aus. So bedient sich Regisseur Ang Lee meisterhaft an Effekten aus der dritten Dimension und schafft dabei ein Kunstwerk nach dem anderen im Sekundentakt. Dabei vereint er messerscharfe Nahaufnahmen mit phantasievoll psychedelischem Landschaftsbild. Das Unglaubliche wird Realität. Im Buch wie im Film. Überragend.
[*] Diese Rezension schrieb: Marina Popzova (2013-01-30)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.