Diese außerordentlich sprachgewaltige Novelle von Thomas Mann handelt von der verbotenen Leidenschaft eines alternden Schriftstellers zu einem schönen Knaben. Es geht in dieser Erzählung aber um noch viel mehr. Es geht um das ewige Thema Liebe, um platonische, gleichgeschlechtliche Liebe, krankhafte Sehnsucht, unstillbares Verlangen, um Tod und Verfall. Um Jugend und Schönheit, um Vergänglichkeit und Hinfälligkeit. Um das Zerrissensein, das am Rande des Abgrundes, der sich zwischen gewissenhafter Vernunft und kopflosem Rausch auftut, einstellt. Um die verzweifelte Suche nach künstlerischer Vollkommenheit. Die Suche nach der Bedeutung von Kunst und Kreativität.
Der Tod in Venedig ist die Geschichte eines zu erwartenden Todes. Alle
Zeichen, alle Symbole deuten von Anfang an daraufhin, dass der Protagonist sich langsam, aber sicher seinem eigenen, unvermeidlichen Ende nähert. Mit der unerbittlichen Zwanghaftigkeit einer griechischen Tragödie steuert der begabte und berühmte Schriftsteller Aschenbach in sein Verderben. Warum er physisch sterben muss, das lässt Thomas Mann offen. Wahrscheinlich aber muss er sterben, um moralisch bestraft zu werden für seine verwerflichen Phantasien, die ein Kind begehren, auch wenn dies nicht offen ausgesprochen wird, aber was könnte den Dichter sonst in den Tod treiben? Er muss sterben, weil sein Herz diese Qualen nicht mehr ertragen kann.
Am Anfang ist es noch rein ästhetische Bewunderung für das formvollendete Schöne, ein überschwänglicher Ausdruck von Begeisterung für die beispiellose Schaffenskraft des universalen Schöpfers, welche solch ein außergewöhnlich faszinierendes Kunstwerk geschaffen hat:
Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig persönlichem Reiz, dass der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas Ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte.
Hier an dieser Stelle liest sich die Bewunderung, die Aschenbach für den
bezaubernden, polnischen Knaben bei der ersten Begegnung empfindet, noch als die Bewunderung, die ein Ästhet und Liebhaber des Schönen für einen makellosen Menschen als Produkt der Natur oder als Geschöpf Gottes empfindet. Hier kann man vielleicht noch folgen und die Begeisterung nachvollziehen.
Allmählich aber wird aus der harmlosen Verzückung eine dämonische Obsession, aus der kein Entrinnen mehr möglich erscheint. Aschenbach verfällt dem jungen Sinnbild des Eros und gleichzeitig verfallen auch seine moralischen Werte, was sich in der morbiden, schwülen Atmosphäre des zunehmend verseuchten, nach Fäulnis riechenden, Venedigs spiegelt. Der Ausbruch der Seuche wird vor der Öffentlichkeit verheimlicht, parallel dazu läuft das verzweifelte Versteckspiel, das der liebeskranke Dichter vor sich selbst und den Hotelgästen, einschließlich der Familie des schönen Jünglings, spielt. Ein Spiel jedoch mit dem Tod. Denn so sehr er sich auch vor Fremden verstecken mag, seinem eigenen strengen Über-Ich kann er nicht mehr entkommen.
Bei aller Liebe ? mitunter zeigt Aschenbachs Zuneigung für das wundervolle Kind auch väterlich-fürsorgliche Züge - ist seinem Gewissen bewusst, dass es aus dieser fatalen, emotionalen Sackgasse, in die er unfreiwillig geraten ist, kein Entkommen geben kann. Nur der Tod kann ihn erlösen und so läuft alles auf eben diesen Tod hinaus.
Der Tod in Venedig ? Eros und Thanatos.
[*] Diese Rezension schrieb: Jasmin Carow (2005-08-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.