Mit dem vorliegenden sechsten Band seines autobiographischen Romanprojekts „Ortsumgehung“ hat der in Friedberg in der Wetteraus geborene und aufgewachsene Schriftsteller Andreas Maier nicht nur schon über die Hälfte des auf angeblich elf Bände angelegten Werkes vollendet, sondern in dem Roman „Die Universität“ verfestigt sich auch eine schon in „der Kreis“ angelegte Wende in seiner Entwicklung, die Geburt eines Künstlers und einer Idee von der Welt und seiner Aufgabe in ihr.
Inspiriert von Thomas Bernhard, über den er auch promovierte, entwickelte Andreas Maier schon in den Bänden „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“ und „Der Kreis“ seit 2010 von Buch zu Buch das autobiographische Erzählen als Kunstform und erweiterte sukzessive sein Beobachtungsspektrum. Quasi wie in konzentrischen Kreisen erzählt er immer wieder von seiner Kindheit und Jugend und setzt mit jedem Buch immer wieder neu an, bezieht sich auf Bekanntes, fügt Neues hinzu und begleitet als erwachsener Intellektueller mit großem Einfühlungsvermögen sich selbst als Kind und Jugendlicher auf dem Weg in die Welt und ins künstlerische, ästhetische und politische Bewusstsein.
In der Zwischenzeit ist Andreas Maier an der Universität in Frankfurt. Wir schreiben die Jahre 1988-1989. Noch immer trägt er seine Liebe zur Buchhändlertochter aus Friedberg in sich, auf deren Spuren er sich in seiner Heimat bei kurzen Besuchen zu Hause bewegt.
Doch hauptsächlich erzählt er in knappen Kapiteln und Miniaturen von seinem Leben als Student, von seinen Beobachtungen in Seminaren des berühmten Karl-Otto Apel über Wahrheitstheorie und dessen unendlichen Exkursen. Ende der 80 er Jahre gab es noch keine festgelegten Bachelorstudiengänge, sondern das Studium war relativ frei, bewegte sich zwischen Besuchen der Unikneipe Dr. Flotte und verzweifelten Versuchen, eine Orientierung für das eigene Leben zu finden. Andreas Maier treibt die Orientierungslosigkeit bald schon zu einem Arzt. Die Schilderung von dessen Anamnese ist ebenso köstlich zu lesen wie Maiers Beobachtung und Reflexionen über Kommilitonen in Apels stickigem Seminar.
Als er auf der Suche nach einem Zimmer in einer ziemlich heruntergekommenen Dachbude glaubt in einem auf dem Boden liegenden Erotikmagazin eine ehemalige Freundin zu sehen, geraten im Gegenwart und Vergangenheit ziemlich durcheinander.
Etwas mehr Klarheit verschafft ihm ein Studentenjob bei einer Art Pflegebörse, wo er als Neuling zuerst zu einer besonders schwierigen Patientin geschickt wird. EWs stellt sich heraus, dass er die Ehefrau des schon 1969 verstorbenen Philosophen Theodor Adorno, Gretel Adorno versorgen muss. Er lässt sich von ihr zerkratzen und beschimpfen, aber eigentlich versteht er sich mit ihr besser als mit seiner ganzen Umwelt.
Zusammen mit seinen Kollegen, mit denen er im Schichtdienst Gretel Adorno versorgt, erfüllt er ihr eine schon Jahre gehegten Wunsch: sie möchte noch einmal an ihrem Platz im legendäre Cafe Laumer in der Bockenheimer Straße sitzen, wo sie in den Sechzigern mit ihrem Mann oft anzutreffen war.
Die Universität ist ein Roman über die Möglichkeit, überhaupt von so etwas wie „Ich“ oder „Person“ zu sprechen. Vergleiche hierzu Maiers Frankfurter Poetikvorlesungen, die 2006 bei Suhrkamp erschienen sind. Es ist jener Zustand Anfang zwanzig, in dem wir zwar noch im Rollenspiel der Jugend verhaftet sind, zugleich aber längst begriffen haben, dass es irgendwo anders hingehen muss.
Andreas Maier ist mit diesem sechsten Roman seiner Reihe eine leise Geschichte über jemanden gelungen, der seinen Platz in der Welt finden will, ohne sich selbst zu verlieren.
In einer Anmerkung auf Seite 86 schreibt Maier: „Nach wie vor bin ich dann für ein paar Augenblicke neben mich gesetzt, wie wenn meine jetzige Bad Nauheimer Gegenwart im Jahre 2009 und das Zimmer meines Onkels, in dem ich das hier schrieb, durchscheinend werden und dahinter ein anderes früheres Bild herandrängt.“
Schon in „Der Kreis“ hatte mich eine Bemerkung vermuten lassen, dass die Bände von „Ortsumgehung“ längst fertig sind. „Die Universität“ jedenfalls wurde 2009 geschrieben und erst 9 Jahre später veröffentlicht. Was auch immer der Grund dafür ist – offensichtlich hat der mittlerweile in Hamburg lebende Andreas Maier schon seit Längerem Zeit für ein ganz neues Projekt. Auf das bin ich sehr gespannt.
Andreas Maiers Zyklus ist ein beeindruckendes Erinnerungsprojekt und bis jetzt ein wertvolles literarisches Zeugnis dessen, was Kindheit und Erwachsenwerden bedeuten können.
Andreas Maier, Die Universität, Suhrkamp 2018, ISBN 978-3-518-42785-9
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2018-05-16)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.