„Homo homini lupus“: der Mensch ist des Menschen Wolf, eine alte antike Weisheit könnte grundlegend für die Charakterisierung von Wolf Larsen gewesen sein, der Kapitän der „Ghost“, der einem einmal kennengelernt nicht mehr so leicht aus dem Kopf will. „Sie stehen auf den Beinen Gestorbener“, wirft dieser Humphrey, dem Erzähler der Geschichte, bald vor, „Sie haben nie eigene besessen. Allein könnten Sie nicht zwischen zwei Sonnenaufgängen umhergehen und sich drei Mahlzeiten für Ihren Bauch verschaffen.“ Wolf Larsen will dem verwöhnten und aus guten Verhältnissen stammenden „Hump“ das Gehen auf eigenen Füßen beibringen, wahrscheinlich bringt er ihn nur deswegen nicht gleich um. Larsen macht ihn zu einem Versuchsobjekt, einem Experiment und zumindest das wird ihm am Ende gelingen: der verweichlichte „Hump“, der anfangs aufgrund seines verletzten Knies tatsächlich „hump“-elt, entwickelt sich - im Widerstreit mit dem Seewolf - zu einem Mann, zu Humphrey van Weyden. Und vielleicht zeigt das auch, dass solche menschlichen Monstren als welches Larsen dargestellt wird doch auch ihre Funktion für die Gesellschaft haben: an ihnen messen ihre Widersacher. Wolf Larsen wird so auch zu einer Charakter-Schmiede.
Die verhängnisvolle Missinterpretation Darwins
Aber zuerst muss er als Kajütenjunge anheuern und dem abscheulichen und primitiven Koch, Thomas Mugridge, der in der deutschen Übersetzung statt Cockney Berlinerisch spricht, dienen. Und dieser Mugridge, der in der Hierarchie der „Ghost“ ganz unten steht, nützt seine Macht weidlich aus, denn endlich hat auch er jemanden zum Rumkommandieren, bis aus Hump endlich „van Weyden“ wird und das mit Hilfe eines billigen Tricks: er wetzt ebenso an seinem Messer wie Mugridge und plötzlich bekommt auch dieser Respekt vor ihm und nennt ihn nie mehr „Hump“. Dennoch bleibt der Protagonist vorerst ein Sklave, denn die Arbeit, die ihm zugedacht ist, erfordert ihre volle Aufmerksamkeit, kein einziger Augenblick der Freiheit oder des Müßiggangs wird ihm auf der „Ghost“ zuteil. „Sie haben Darwin gelesen“, meint Humphrey zu Larsen, „Aber sie haben ihn missverstanden, wenn Sie folgern, dass der Kampf ums Dasein Ihre mutwillige Vernichtung von Leben sanktioniert“. Wolf Larsen ist eine Art Materialist, einer der das Leben als Sieg über anderes Leben definiert, als Gärung, die sich ausbreitet, um selbst leben zu können. „Wissen Sie, dass der einzige Wert des Lebens der ist, den es sich selbst beimisst? Und der ist natürlich überschätzt, da es ja unvermeidlich zu seinen Gunsten voreingenommen ist.“, antwortet ihm Larsen wenige Seiten weiter. Wolf Larsen mag ein Materialist sein, aber dumm ist er deswegen noch lange nicht, denn er hat sich autodidakt sehr viel Wissen angeeignet, wenn auch falsch interpretiert.
Sein Bruder heißt Tod
Vielleicht entsteht auch daraus seine Einsamkeit: er ist zu klug für sein Milieu und es gelingt ihm ob seiner sozialen Situation nicht, daraus auszusteigen. Ein Wolf Larsen wäre zu höherem geboren. Sein grenzenloser Egoismus und seine Rücksichtslosigkeit würden ihn wohl für eine Karriere im Finanzsektor prädestinieren, aber der war zur Entstehung von Jack Londons Roman noch in den Kinderschuhen und brauchte keine Kapitäne. Wolf Larsen hat auch einen Bruder. Sein Bruder heißt Tod. Tod Larsen. Der Kapitän des Dampfschiffes „Macedonia“ wird später auch für die Niederlage Wolf Larsens und seinen Untergang verantwortlich sein, aber ob darin eine Metapher steckt, bleibt unaufgeklärt. „Mein Fehler war, dass ich jemals Bücher aufgeschlagen habe“, resümiert Wolf Larsen am Ende des ersten Teils des Seewolfs und erklärt damit seine Niederlage. Während der erste Teil von „Seewolf“ vor allem die männliche Welt auf der Ghost beschreibt, die sich durch Niedergang und Verzweiflung ausdrückt, kommt im zweiten Teil eine radikale Wende, die durch eine Frau, Maud Brewster, eingeleitet wird. Diese „kleine einzige Frau“ steht für die Hoffnung schlechthin und den Wunsch, dass endlich wieder alles gut werde durch das „Wunder der Liebe“: „All das war Maud, eine unerschöpfliche Quelle der Kraft und des Mutes. Ich brauchte sie nur anzusehen oder an sie zu denken, und ich war wieder stark.“ Und Maud flüstert zu ihrem Humphrey: „Aber, aber, es wird ja alles gut werden. Wir sind im Recht und es muss alles gut werden“.
Jack London
Der Seewolf. Roman
Neu übersetzt, mit einem Nachwort, Glossar,
Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W.Wolff
Taschenbuch, 407 Seiten, dtv
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-02-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.