Die Historizität von Literatur und ihre Deutung können reichhaltige Erkenntnisse erschließen. In einem Jahr, in dem sich das Ende der DDR zum zwanzigsten Male jährt ist es daher nahe liegend, sich das Kompendium der DDR-Literatur noch einmal anzuschauen, um zu sichten, was es wert ist, noch einmal gelesen zu werden. Bei einer solchen Überlegung stieß ich auf den damals auch verfilmten Roman von Erich Loest „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“. Nun gehört der 1926 geborene und nach Jahren des westdeutschen Exils wieder in Leipzig wohnende Autor nicht unbedingt zu den Schlachtrossen der damaligen DDR-Literatur, sondern er war ein Unbequemer, wofür er unter andrem sieben lange Jahre im Zuchthaus Bautzen saß und dort einem absolutem Schreibverbot unterlag. Dennoch hat er sich nie zu einem so genannten Revanchisten entwickelt. Zu nah war ihm das Volk, zu banal die Zeichnung in Schwarz-Weiß.
In dem 1977 erschienen Roman beschreibt Loest den Alltag des Ingenieurs Wolfgang „Wolfi“ Wüllf nebst Frau Jutta und Tochter Bianca. Das Leben pendelt mit einer monotonen Regelmäßigkeit zwischen Betrieb und der Plattenbauwohnung in der „Oktobersiedlung“. Die einzige Abwechslung sind die Abende mit einem befreundeten Ehepaar, sie Kollegin von Gattin Jutta, er, durch einen Unfall erblindet, Historiker und Parteimitglied. Im Grunde genießt man die Errungenschaften des wirtschaftlichen Aufschwungs, verspeist die Schinkenrollen, russischen Eier und Gewürzgurken der gereichten kalten Platten, trinkt mächtig landeseigenen Sekt und Wodka. Das Leben rollt dahin, im Betrieb droht der ehrgeizige Chef zu kollabieren und ein Kollege, ein Mann der ersten Stunde, verfasst gedanklich die Alltagsszenen in nie nieder geschriebene Theaterstücke. Die Frau des befreundeten Ehepaars geht fremd und ihr blinder Mann erforscht den Luftkrieg und die Abschüsse der russischen Flieger durch die Nazis. Wolfi Wüllf will sich keinem Aufbaustudium stellen, was ihn der harschen Kritik seiner Frau Jutta, die aus einer Akademikerfamilie stammt, aussetzt. Als Wolfi einen Vater als Faschisten beschimpft, der seinen Sohn aus Ehrgeiz beim Schwimmunterricht quält, beginnt die Ehe mit Jutta den Bach runter zu gehen und endet in der Scheidung. Wolfi zieht zurück zu seiner Mutter, einer Schichtarbeiterin, macht seine Arbeit und lernt irgendwann eine neue Frau kennen, mit der er eine Zukunft ohne Karriereabsichten planen kann.
Erich Loest, der sein Arbeitsleben als Hilfsarbeiter in den Leuna-Werken begann, kennt das Volk zu gut, als dass er ein ideologiegefärbtes Handlungskonstrukt entworfen haben müsste um das zu beschreiben, worum es ihm ging. Dass nämlich jenseits der Parteilogik, jenseits eines monopolstaatlichen Wirtschaftssystems und jenseits eines sozialistischen Weltbildes, das zu jener Zeit noch keine großen Korrosionsspuren aufwies, dass trotz dieser überaus mächtigen Fassade in den Hochzeiten der DDR das Kleinbürgertum mit Wagen, Weib und Datsche fröhliche Urständ feierte. Und dass die Menschen Menschen blieben, mit ihrer Sehnsucht nach ein bisschen Ruhe und Liebe. Und gerade das macht Ideologien stumpf.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-08-21)
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