Varieté, Veganer, Revoluzzer, Jugendkult, Mystizismus, Psychoanalyse, Massenspektakel, Emanzipation, Sexuelle Revolution, Sadomasochismus, Halbwelt und Milieu… wer glaubt, diese Begriffe passten nur zu einer Großstadt der Milleniumswende, der irrt gewaltig, denn alles das, hatte Wien, die Hauptstadt Österreich-Ungarns, schon zur Jahrhundertwende zu bieten. Frauen, die Hosen trugen, Hippies, Männerbäder, FKK, Hochstapler, Reaktionäre und Kommunarden beherrschten den öffentlichen Diskurs und prägten auch die Nachwelt nachhaltig. Neulerchenfeld etwa, eine Wiener Vorstadt, die heute größtenteils zu Ottakring, dem XVI. Wiener Gemeindebezirk gehört, war schon um 1800 „des Heiligen Römischen Reichs größtes Wirtshaus“, über fünfzig Prozent der Einwohner waren Frauen, viele davon zugewandert. Pülcher und Strizzis bevölkerten die Straßen ebenso wie Halbwelt- und Vorstadtbonvivants und das horizontale Gewerbe feierte fröhliche Urständ. Wien war damals eine „lebenslustige, lasterhafte Stadt mit großer sexueller Freizügigkeit“, schreibt Lindinger und die Libertinage wurde auch von den sog. Herrschaften gewürdigt, wie eine ansehnliche Opferbilanz veranschaulicht: der Maler Hans Makart, Erzherzog Otto (Vater des letzten Kaisers) und selbst der Thronfolger Rudolf – hätte er sich nicht selbst erschossen – seien an der Syphilis erkrankt und gestorben. Den Soundtrack zu dieser fröhlichen „Weltuntergangsversuchstation“ (K. Kraus) sangen oder besser "dudelten" so illustre Gestalten wie Luise Montag, das „Lercherl von Hernals“ oder die „Fiaker-Milli“ genannte Emilie Turecek, die stets im Reitkostüm mit Peitsche auftrat und damit wohl so manche Fantasien hochwohlgeborener Herren anstachelte und so weit beflügelte, bis sogar das werte Herzerl „Flügerl“ bekam, Diagnose: Herzinfarkt.
"Wien um 1900: Hetz, Gaudium und Räuscherl"
Ludwig Viktor, der zwölf Jahre jüngere Bruder von Kaiser Franz Joseph, auch „Luziwuzi“ genannt, wurde in der noch heute existierenden Schwulensauna „Kaiserbrünnl“ einmal abgewatscht und trug gerne Frauenkleider, was ihn unter den anderen hochkarätigen „Buseranten“ seiner Zeit prominent einreihte und auf den vielen Partys am Schwarzenbergplatz, wo sich seine bescheidene Hütte noch heute befindet, zum unangefochtenen Star machte. Während die heterosexuellen Männer jener Zeit größtenteils an Neurasthenie litten, attestierte man etwa Anna von Lieben, Bankiersgattin und prominente Patientin Sigmund Freuds - wie so vielen anderen Frauen auch - Hysterie. Der berühmte Pariser Psychiater Charcot empfahl eine Ovarienpresse, um die im Körper einer Hysterikerin umherwandernde Gebärmutter ruhig zu stellen (sic!). Charcot, der auch ein Verhältnis mit einer seiner Patientinnen, die später von Toulouse-Lautrec auf vielen Werbetafeln der Epoche abgebildet werden sollte, hatte, sollte zum Lehrmeister Sigmund Freuds avancieren und dieser unternahm seine ersten psychoanalytischen Gehversuche mit „Cäcilia M.“ (Anna von Lieben), die so immerhin vor einem frühen Suizid, nicht aber vor ihrer Morphinsucht bewahrt werden konnte. Oder waren gerade die Gespräche mit Dr. Freud der Grund für ihre Sucht? Freud war zwar kein Dealer, aber doch verkaufte er eine neue Ideologie zur Erklärung der Welt, ein Räuscherl zum Pläuscherl, wohl bekomm’s!
"No town for old men"
Immer wieder verbindet die Autorin Ereignisse von damals mit Anlehnungen an zeitgenössische Phänomene der Popkultur, was ihrem gesamten Text eine besonders amüsante Lesbarkeit verleiht und die Aktualität damaliger Eskapaden für das Heute unterstreicht. So etwa in ihrer Referenzen an die Coen-Brothers, Mel Gibson, J.R.R. Tolkien und Praunheim., mit denen sie zeigt, dass das alles gar nicht so weit her ist, es „das alles schon einmal gab“ und durchaus auch heute noch passiert. In ihrem Kapitel über Karl Anton Guido List etwa schreibt sie: „Die Rekonstruktion war als Vehikel für einen Ideologietransfer konzipiert“ und nimmt damit allen verklärten germanischen Volksfesten und Weihespielen den Wind aus den Segeln, denn wo sonst, wenn nicht in der Politik, werden antike Mythen für konkrete politische Ziele eingesetzt, um möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Die abstrusen politischen Theorien der Jahrhundertwende von Germanenkult, Runenkunde und Rassenhygiene führten letztlich auf den schrecklichsten Friedhof des Jahrhunderts und wurden allesamt von einem gewissen Adolf H. aufgesaugt, wobei es aber müßig ist zu fragen, wer ihm die Ideen gab (Daim vs. Hamann), vielmehr aber wer ihm das Geld gab. Die Wissenschaftlichkeit aller Disziplinen in der sog. Wissenschaft stand damals noch auf tönernen Füßen und das bot auch Scharlatanen wie dem Hohenemser Eugen Steinach ein lukratives Beschäftigungsfeld: Vasektomie. Steinach hatte eine Verjüngungskur erfunden, die darauf beruhte, älteren Herren Affenhoden einzupflanzen, um sie dadurch wieder viriler zu machen. Eines seiner prominentesten Opfer war übrigens der irische Dichter William Butler Yeats, der mit 69 in „Sailing to Byzantium“ alsbald klagte: That is no country for old men“.
"Kabinett der Eitelkeiten"
Aber auch harmlosere Varianten der Scharlatanerie gab es schon zur Jahrhundertwende. Erwähnt sei vor allem der „Kohlrabi-Apostel“ Karl Wilhelm Diefenbach, der als einer der ersten Hippies bezeichnet werden könnte. Diefenbach hatte sich nicht nur dem Vegetarismus verschrieben, sondern warnte auch vor der Ehe als Beziehungsgrab und „privilegierter Unzucht“, die die Prostitution fördere (sic!). Er propagierte die freie Liebe und gründete die Himmelhof-Kommune in Ober St. Veit, womit sogar Bertha von Suttner einige Zeit sympathisierte. Als sich aber herausstellte, dass das „friedliche Zusammenleben“ in Wirklichkeit eine „Diktatur der Befreiung“, also eine Diktatur einiger weniger über viele war, grauste schließlich auch ihr vor Diefenbachs „Kulturrevolution“. Eine ebenso illustre Figur, der in Lindingers „Kabinett der Eitelkeiten“ nicht fehlen darf, war natürlich der allseits bekannte Peter Altenberg, dessen Plastikreplik den Wientouristen heute noch prominent im Eingangsbereich des Café Central in der Wiener Herrengasse begrüßt. Wer dieses interessante Kapitel liest wird sich freilich wundern, warum man einem solchen Menschen ein Denkmal errichtet, schließlich tat er Zeit seines Lebens nichts anderes, als zu schnorren und danach im Caféhaus zu sitzen, wenn auch auf sehr hohem Niveau. In eine ähnliche Kerbe schlug auch Stanislaw Przybyszewski, der „geniale Pole“, der das Wiener Leben der Jahrhundertwende ordentlich „chopinisierte“. Selbstgefällige Ästheten, wir Karl Kraus sie nannte, gab es im Wien der Jahrhundertwende wahrlich genug und Lindinger hat lesenswerte Porträts gestaltet, die den Wahnsinn einer Epoche in einem bunten Kaleidoskop synthetisieren.
Weitere Biographien zu Mary Vetsera, Adolf Josef Lanz erweitern dieses „Wiener Horrorkabinett der Jahrhundertwende“, das aus viel Aberglauben und Unwissenheit bestand und wo sich neben selbsternannten Gottmenschen, Schlosskaminfegern, Buseranten, „Tiermenschen“ und „Ariern“ auch viele Affen und Tempelritter tummelten. Michaela Lindingers „Bestiarium der Wiener Jahrhundertwende“ zeigt auf eindringliche und amüsante Weise, dass Sigmund Freud (der übrigens 1923 erst 67 Jahre alt war) bei weitem nicht der einzige Scharlatan mit Doktorstitel in Wien war, dessen Ideen ihren Siegeszug von dort aus in die Welt antraten, siehe oben.
Michaela Lindinger
Sonderlinge, Außenseiter, femmes fatales.
Das „andere“ Wien um 1900
255 Seiten
Amalthea Verlag
2015
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-04-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.