Er war wohl einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des deutschen Judentums des 20. Jahrhunderts, der Rabbiner Leo Baeck, dessen Leben die Autorin Waldtraut Lewin in dieser beeindruckenden Romanbiographie eingefangen hat.
In einem gelungenen Wechsel schiebt sie immer wieder dokumentarische Teile ein in die literarisch anspruchsvoll geschilderte Lebensgeschichte eines Mannes, der, als die Nazis 1933 an die Macht kommen, schon lange einer der einflussreichsten Vertreter eines liberalen Judentums in Deutschland war.
Schon 1936, nachdem Leo Baeck sich geweigert hatte, am Sabbat einer Vorladung der Gestapo zu folgen („Ich pflege am Sabbat nicht in ein Büro zu gehen. Am Sabbat gehe ich zum Gottesdienst“) wird er ins Reichsicherheitshauptamt vorgeladen, wo er Adolf Eichmann begegnet. Jenem SS-Mann, der später bei der Vernichtung der europäischen Juden eine leitende Rolle spielen sollte.
Eine ganz wichtige Rolle in Lewins Romanbiographie spielt die Einschätzung der Rolle Leo Baecks, die er in der Reichsvereinigung der deutschen Juden innehatte. Einem System von zynischer Einfachheit. Die Reichsvereinigung erhält von der Gestapo Namenslisten, aus denen die Funktionäre fünfhundert Menschen für den nächsten Transport auswählen müssen.
Waldtraut Lewin schreibt dazu:
„Einige Historiker haben in Nachhinein die Kooperation der jüdischen Funktionäre in der Reichsvereinigung mit den Nazis scharfer Kritik unterzogen. Sie hätten sich auf diese Weise indirekt zu Handlangern der Vernichtung an ihrem eigenen Volk gemacht.
Dazu ist Folgendes zu sagen: Zumindest bis 1943 ist die Taktik der Täuschung und Verschleierung, mit der die Nazis ihr Vernichtungsprogramm umgaben, noch perfekt wirksam. Man glaubte tatsächlich, es handele sich um Arbeitseinsätze oder Umsiedelungsaktionen. Und wenn wirklich irgendetwas publik wurde über das, was da im Osten geschah, dann klang es so haarsträubend abstrus, dass keiner bereit war, es zu glauben. Duschräume, die mit Giftgas geflutet wurden – wer sollte denn so ein Gräuelmärchen für wahr hakten!“
Später, nach dem Krieg, den er im KZ Theresienstadt überlebte, sagte Leo Baeck selbst dazu: „Als die Frage aufkam, ob jüdische Hilfskräfte Juden zur Deportation abholen sollten, stellte ich mich auf den Standpunkt, dass es besser wäre, wenn sie es täten, weil sie zumindest freundlichen und hilfsbereiter sein würden als die Gestapo … Es stand kaum in unserer Macht, uns den Befehlen erfolgreich zu widersetzen.“
Immer, bis zuletzt im KZ, hat sich Leo Baeck als Rabbiner, als Seelsorger der Menschen verstanden. Er hat ihnen beigestanden in der Not, mit ihnen gebetet. Seine Größe in einer finsteren Zeit, so beschreibt es Waldtraut Lewin eindrucksvoll, war „seine nie versiegende Quelle der Menschlichkeit und seine Liebe zum Nächsten, seine Empathie.“
Wie schon vor dem Krieg, hält sich Leo Baeck auch danach mit politischen Einschätzungen zurück. Er ist kein Politiker, sondern ein Rabbiner. Dennoch spricht er 1947 im Zusammenhang mit der Entwicklung in Palästina von einer Tendenz, „die Nationalismus und Chauvinismus erzeugt und Chauvinismus wiederum erzeugt Gewalt und Terrorismus und falsche Ideale.“
Prophetische Worte, die bis heute eine erschreckende Gültigkeit haben, wenn man die Geschichte des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern in der vergangenen Jahrzehnten betrachtet.
Die Romanbiografie zeigt nicht nur die beeindruckende Lebensgeschichte eines außergewöhnlichen Mannes und Rabbiners, sondern bietet sozusagen mit der Lebensgeschichte Leo Baecks als Vordergrund im Hintergrund eine ganz ausgezeichnete Geschichte des Judentums in Deutschland.
Waldtraut Lewin, Leo Baeck. Geschichte eine deutschen Juden. Eine Romanbiographie, Gütersloher Verlagshaus 2012, ISBN 978-3-579-06563-2
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-06-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.