„Nichts fühlt sich so gut an wie neben einem Menschen zu atmen, den man begehrt.“ Kurzgeschichten eignen sich hervorragend für unseren hektischen Alltag. Wer auf einen Bus oder eine Straßenbahn wartet, wird wissen, was ich meine. Auf keine Weise kann man die Wartezeit besser nützen, als mit dem Lesen einer prägnanten Abbildung einer Beobachtung aus dem Leben anderer, die vielleicht ebenso entstanden ist, wie sie gelesen wird: beim Warten auf irgendein öffentliches Verkehrsmittel oder in einem, auf dem Weg zur Arbeit. Gleich in der Titelgeschichte fällt mit entwaffnendem Charme dieser Satz vom Protagonisten Levys: „Dass Leute, die sich zueinander hingezogen fühlen, erst mal so tun, als hätten sie ein ausgefülltes Leben voller Verpflichtungen ist normal, aber mir fällt es unglaublich leicht, barfuß menschliche Scham zu durchwaten.“ Gerne stimmt man in den Jubel des Endes ihrer ersten Kurzgeschichte ein, in der die Erzählerin zu dem Schluss kommt: „Das Leben ist schön! Wodka ist schwarz! Birnen sind nackt! Der Regen ist waagrecht! Nachtfalter sind Geister. Davon stimmt nur einiges, aber Sie sollten wissen, dass mir das nicht annähernd so viel Angst einjagt wie die Aussicht auf Liebe.“
Duft nach Milch und gemühtem Gras
Aber nicht allen ihren Protagonisten und Protagonistinnen wird ihre Sehnsucht erfüllt, denn Deborah Levy weiß um die Bescheidenheit menschlichen Glücks und dass es nur jenen zuteil wird, die nicht darauf hoffen und es sich schon gar nicht vom Leben erwarten. Auf ihren Reisen durch das Leben von Menschen in London, Prag, Wien oder Barcelona erkundet die Autorin nicht nur die intimen Wünsche ihrer vielen Figuren, sondern auch die eigenen. Oft Leben die Menschen auch aneinander vorbei oder vermarkten das Glück der anderen, ohne je selbst glücklich dabei sein zu können. Aber ein paar einzelne Sätze, die ihre Gedanken ausdrücken, entschädigen dann doch für das versäumte eigene Glück: „Sie roch nach Milch und gemähtem Gras, und ich war ihr Kalb“ wird Veganer vielleicht nicht gerade vor Freude hüpfen lassen, aber es gibt ja noch andere Perlen zu entdecken und aufzutauchen: „Wir alle atmen Atome ein, die vor Urzeiten im Feuerofen eines Sterns geschmiedet wurden.“ Und wer genau hinschaut, der kann sie sogar fallen sehen, diese Atome. „Unsere inneren Welten sind vulkanisch, exotisch, verstört, unser Alltag aber ist wunderbar vorhersehbar.“ Ah. Endlich. Der Bus kommt.
Deborah Levy
Black Vodka. Zehn Kurzgeschichten.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Mit einem Vorwort von Michèle Roberts
Wagenbach Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: jürgen Weber (2016-04-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.