1962 wurde der 36jährige Schriftsteller Siegfried Lenz in die USA eingeladen. Lenz galt damals als einer der zwar jungen, aber etablierten Schriftsteller der jungen Bundesrepublik. Mit seinen Romanen und Erzählungen Es waren Habichte in der Luft (1951), der Mann im Strom (1957) und Das Feuerschiff (1960) waren ihm Erfolge gelungen, die ihn bereits fest auf die Lehrpläne des Schulunterrichts gebracht hatten. Hinsichtlich der unablässigen Versuche der USA, in der Bundesrepublik die neuen, demokratischen Kräfte zu fördern, war es keine Überraschung, dass der damalige amerikanische Botschafter persönlich zu einer Rundreise in die USA einlud. Siegfried Lenz trat diese Reise an. Vom 15. Oktober bis zum 23. November 1962 reiste er von New York, über Washington nach Boston, besuchte die Provinz, war in San Francisco, Houston und New Orleans und flog von New York zurück.
Um die vielen Eindrücke, die ein derartig dichtes Programm hinterlassen mussten, nicht zu vergessen, schrieb Lenz jeweils abends im Hotel einige Zeilen, um das Erlebte festzuhalten. Er nannte das, für sich und seine Frau, die in Deutschland geblieben war, Amerikanisches Tagebuch 1962. Es waren private Aufzeichnungen, die nicht für eine Publikation gedacht waren. Nun, 50 Jahre später, wie aus einem Verschluss-Archiv, tauchen diese Aufzeichnungen auf dem deutschen Buchmarkt auf.
Wie gesagt, Siegfried Lenz war zu diesem Zeitpunkt ein bereits beachteter Schriftsteller, der durchaus sein Handwerk verstand. Die Art und Weise, wie er seine abendlichen Aufzeichnungen, zumeist erschöpft und müde, zu Papier brachte, ist dennoch sehr zu würdigen. Wie es der Zufall wollte, kam Lenz gerade zu Beginn der Kuba-Krise in den USA an und er erlebte direkt den Schock, die Aufregung und andererseits auch die Zuversicht und den unerschütterlichen Patriotismus der Amerikaner. Sein Programm brachte es mit sich, dass er viele Seiten des Landes szenisch erleben konnte. Da waren die intellektuellen Zirkel der Ostküste, die ihm etwas oberflächlich, aber tief gebildet vorkamen, da waren die Farmer, die durch die teils martialische Härte ihres Alltagsgeschäfts nicht die Herzlichkeit ihrer Gastfreundschaft verloren hatten. Da gab es die absurden, schrillen, wie in Denver oder San Francisco, die sich am Theater versuchten und mit Laien die großen Würfe der Dramaturgie einspielen wollten. Und natürlich bemerkte er die andere Mentalität in Houston und New Orleans, vor allem über letzteres muten seine Zeilen heute an wie ein Diversity-Studie und belegen, wie alt jenseits des Teiches manches Thema bereits ist, das wir für neu halten.
Neben dem Alltäglichen, Profanen, welches die Preise für Eier und Schinken genauso beinhaltet wie die für einen Haarschnitt oder die Gelassenheit, mit denen die Amerikaner große Strecken mit ihren Autos überwanden, entdeckt Lenz auch Wesenszüge, die seine große Beobachtungsgabe dokumentieren. Und er vergleicht die Deutschen mit den Amerikanern, was teilweise sehr amüsant und erhellend ist. Wir erfahren, dass die Amerikaner nichts mehr fürchten, als sich allein gelassen zu fühlen, was bei der Weite des Landes und seiner Siedlergeschichte kein Wunder ist. Und, nicht unkritisch, unterscheidet Lenz das Ansinnen vieler Amerikaner, als Individuum von der Gemeinschaft geliebt werden zu wollen, im Gegensatz zu den Deutschen, die lieber als Kollektiv von der Geschichte gewürdigt werden wollen. Nahezu demütig beendet Siegfried Lenz seine letzte Aufzeichnung, in dem er konstatiert, dass die USA dem Individuum letztendlich wie kein anderes Land bewiesen, welch armselige Erscheinung es sei.
Für Menschen, die sich ohne Präjudiz für die USA interessieren, zudem in einer historisch prekären Phase, ist das amerikanische Tagebuch 1962 eine wunderbare Überraschung.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2012-10-28)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.