Am 12. November 1918, bei der Ausrufung der österreichischen Ersten Republik, reißen Demonstranten das weiße Teil der rot-weiß-roten Fahne heraus, binden die beiden verbliebenen roten Fahnenteile wieder zusammen und hissen sie am Fahnenmast vor dem österreichischen Reichsrat, dem nunmehrigen Parlament. Andere tragen ein riesengroßes Transparent mit der Aufschrift „Hoch die Sozialistische Republik“. Ein gewisser Egon Erwin Kisch dringt bewaffnet in die Räumlichkeiten der „Neuen Freien Presse“ ein und setzt sich an die Druckermaschinen. Chaotische und dramatische Stunden stehen am Anfang eines Staates, den eigentlich keiner wollte, wie es ein Historiker einmal ausdrückte. „Deutsch-Österreich“ ist nun nur mehr ein Rumpf-Staat, aus einer Bevölkerung von 55 Millionen während der Monarchie, wurde ein Zwergstaat von gerade mal 6,5 Millionen. Mit dem von der Republik Österreich beanspruchten Sudetenland wären es immerhin 10 Millionen gewesen, gleich groß wie die umliegenden Nachbarländer und ökonomisch stärker, doch die Erste Republik wurde auf einem Achtel ihrer Fläche (von 676.648 km² auf 83.871 km²) gegründet, das Sudetenland der Tschechoslowakei zugeschlagen und keiner der neuen „österreichischen“ Staatsbürger wollte an dieses Österreich glauben. Die Ausweitung des Territoriums erreichte einst vom westlichsten Punkt, Bangs in Vorarlberg, bis zum östlichsten Punkt, Chiliszeny in
der Bukowina, 1.274 km. Zwischen dem nördlichsten Ort, Hilgersdorf (heute: Severní bei Litoměřice) in Böhmen bis Spizza in Dalmatien, heute in Kroatien, waren es immerhin 1.046 km. „Österreich-Ungarn“ war - was die Fläche betrifft - der zweitgrößte Staat nach Russland und was die Bevölkerung betrifft - nach Russland und Deutschland - der drittgrößte, allerdings bis vor dem Krieg, 1914.
Niemand wollte mehr an diesen Rumpfstaat glauben, auch deswegen, weil man in Großräumen dachte. Sollte sich die angestrebte „Donauföderation“ mit den ehemaligen Staaten der Monarchie nicht verwirklichen lassen, dann eben ein Anschluss an das Deutsche Reich, der zwar in den Friedensverträgen von St. Germain ausdrücklich verboten wurde, aber sich dennoch während der Zwischenkriegszeit in allen drei großen politischen Lagern Österreichs durchsetzte, auch in der Sozialdemokratie. Allein die kleine Kommunistische Partei, die bei oben genannter Aktion so großspurig in Erscheinung getreten war, vertrat eine Auffassung einer eigenen österreichischen Identität, die sie ausgerechnet einem ehemaligen georgischen Bewohner der Bundeshauptstadt verdankte. Josef Stalin hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Wien gelebt und in seinem Aufsatz „Marxismus und Nation“ die Grundlagen für den österreichischen Nationsbegriff gelegt. Aber das ist selbstverständlich eine andere Geschichte, die in den ersten aufregenden Bilder von der Republiksverkündung nicht erzählt werden. Dafür bekommt der interessierte Zuseher einiges anderes an Dokumentationsmaterial geboten und zwar nicht nur über Politik.
Neben den Aufmärschen der verschiedenen Heimwehrverbände und des Republikanischen Schutzbundes auf der einen Seite, bietet vorliegende DVD auch Bilder von Mussolinis Reise nach Deutschland oder einer Wiener Kundgebung gegen die Besetzung des Ruhrgebietes. Erschreckende Bilder zeigen auch den Brand des Justizpalastes, 1927, oder vom Bürgerkrieg 1934, das wohl dunkelste Kapitel der Ersten Republik, das immer noch nicht völlig aufgearbeitet wurde. Ansprachen und Reden von Politikern zu den verschiedensten Anlässen werden ebenso gezeigt, wie Bilder von der Kinderklinik, in der auf die Heilbarkeit der Tuberkulose hingewiesen wird und an die Bevölkerung appelliert wird, die Untersuchungen an den Kindern rechtzeitig vornehmen zu lassen. Aber auch kulturellen Errungenschaften wie etwa dem „Selbstanschluss-Fernsprecher“ wird ein Filmbeitrag gewidmet, ebenso den Winterfreuden am Arlberg oder der Elektrifizierung der Tauernbahn. Wissenschaftliche Leistungen der Hochschulen werden genauso beleuchtet wie Filmpremieren, etwa von „Stadt ohne Juden“, der erstmals 1924 in Wien gezeigt wurde. In einem weiteren Kapitel werden die Fronleichnamsprozessionen der schwarzen Reichshälfte den Maifeiern der roten gegenübergestellt, aber auch der Fußball kommt auf seine Rechnung oder Charlie Chaplin, der vom tobenden Volk sogar auf den Schultern vom Zug in den Bahnhof getragen wird.
Ein weiterer kultureller Beitrag zur „Wiener Mode“ sollte wohl den österreichischen Patriotismus befördern, er ist betont unpolitisch und stammt aus dem Bürgerkriegsjahr 1934. Die Schlussbilder zeigen die UFA-Tonwoche von 1938: Adolf Hitler und die Wehrmacht werden begeistert empfangen und der Terror nimmt bereits seinen Anfang in dem die unheimliche Vision Hugo Bettauers bereits in den ersten Stunden des Anschlusses verwirklicht wird. Wien wird nun tatsächlich zur Stadt ohne Juden (bereits einen Monat nach dem Anschluss!) und Österreich als „Ostmark“ ein Teil des Deutschen Reichs. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste allerdings niemand mehr die Österreicher von ihrer eigenen nationalen Identität überzeugen. Ein von Helmut Andics 1968 verfasster Beitrag zeigt Kurt Schuschniggs späte Rechtfertigung seines „gentleman`s agreement“, das bereits im Juli 1936 das Schicksal Österreichs besiegelt hatte. Durch den Ausschluss eines breiten Teils der österreichischen Öffentlichkeit, der Illegalisierung der Sozialdemokratischen Partei 1934, hatte das austrofaschistische Regime seine Existenzberechtigung schnell verwirkt. Für dieses Österreich, das der Kleriko-Faschisten, wollte niemand mehr sterben und deswegen gab es wohl auch keinen Widerstand. Der regte sich erst wieder während der Besetzung durch das Deutsche Reich. Dass es ihn aber sogar schon vorher gab, während der Zeit der Ersten Republik und des Austrofaschismus zeigt übrigens auch die zweiteilige Dokumentation „Proletarisches Kino in Österreich“, herausgegeben von Christian Dewald und Michael Loebenstein und ebenfalls beim Filmarchiv Wien (ISBN-13: 978-3-902531-29-2) erschienen. Interessant ist dabei auch die Verwendung von sowjetischem Material, das in russischen Archiven gefunden wurde und erstmals nun in digitalisierter Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Insgesamt 35 Filmdokumente können hier auf zwei DVDs chronologisch betrachtet werden. Die ausführlichen Booklets helfen in beiden Fällen bei der Orientierung des aufschlussreichen Materials zur Zwischenkriegszeit in Österreich.
Hannes Leidinger/Karin Moser (Hg.)
ÖSTERREICH BOX 2: 1918-1938
Zwischen den Weltkriegen
2008
Verlag Filmarchiv Austria www.filmarchiv.at
Kommentierte Filmdokumente
Booklet, ca. 40 Seiten mit Abbildungen
DVD 9 / Codefree / Screen Format 4:3 / PAL Deutsch / 155 Min.
ISBN-13: 978-3-902531-59-9
EUR 19,99
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-08-28)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.