Jahrelang war die Ausnahmefotografin Annie Leibovitz für das Rolling Stone Magazine unterwegs und hatte sich bereits einen Namen gemacht. Ihr war es immer wieder gelungen, Musiker in Situationen festzuhalten, die mehr aussagten als der Act auf der Bühne oder die Konzentration im Studio. Mit dem Bildband American Music hat die Künstlerin, ja, als solche muss man sie unbedingt bezeichnen, eine Reise vom Süden in den Norden und vom Osten in den Westen der USA unternommen, um das Wesen dieser historischen wie musikalischen Wanderungsbewegung in Fotografien zu bannen. Schwer genug, wie immer, wenn ein anderes Medium etwas über wiederum fremde Welten erzählen soll. Aber es ist gelungen.
Die Aufnahmen erfassen die Protagonisten der amerikanischen Populärmusik ebenso wie die vielen Unbekannten, die mit einer Gitarre in der Hand in irgendeiner Kaschemme stehen oder auf dem Feld stehen und singen. Natürlich sind die Giganten vertreten, Johnny Cash genauso wie B.B. King, Bo Diddley wie Hank Williams, Aretha Franklin wie Etta James, Miles Davis wie Willy Nelson, Neil Young wie Patti Smith, Lou Reed wie John Lee Hooker. Obwohl man aufgrund der Namen das Gefühl haben könnte, ein optisches Who Is Who der zeitgenössischen amerikanischen Musik in die Hand zu bekommen, wird diese Vorahnung nicht eingelöst. Annie Leibovitz ist es gelungen, eine Faszination einzufangen, die jenseits der Zelebrität und des Starkultes liegt, ganz im Gegenteil werden selbst die ganz Großen auf den Fotografien ihrer mächtigen Aura entledigt und ihr Ausdruck auf das Wesentliche reduziert. Und dann sind sie nicht interessanter wie die unzähligen No-Names, die mit irgendwelchen selbst gemachten Instrumenten auf Autowracks sitzen und den Blues in den Himmel Louisianas schreien.
Wie überhaupt die Orte in starkem Maße dazu beitragen, aus den Musikern ganz normale Menschen zu machen. Man sieht sie nicht dort, wo das fertige Produkt die Produzenten verlässt, sondern dort, wo sie sich während der tatsächlichen Produktion aufhalten. Hinter den Bühnen, auf den Straßen, in Hotelzimmern, auf Fahrersitzen, in den Diners, an Tankstellen, überall dort, wo das große Paradigma der amerikanischen Siedlergesellschaft zuhause ist. Da ist kein Platz für die Pose, der herrscht Anstrengung oder Erschlaffung, oder es kommt zum essenziellen menschlichen Kontakt.
Das Große, Unglaubliche, Bewegende dieser Aufnahmen jedoch sind die Augen der Musikerinnen und Musiker. Annie Leibovitz ist es gelungen, den großen, kontinentalen Traum von Freiheit und Selbstverwirklichung mit seiner Anstrengung, seinem Scheitern, seiner Enttäuschung und seiner unglaublichen, unbegrenzten Intensität einzufangen. Da sind Texturen, die beigefügt und exzellent sind, dennoch überflüssig. Da sind Bilder, die aufwühlen und keiner Ruhe mehr Raum geben!
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2010-12-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.