Wer glaubt, im Zeitalter der verdichteten Innovationen auf den historischen Rekurs verzichten zu können, der unterliegt der Verblendung seiner eigenen Zeit. Einen besseren Beweis für diese These ist kaum zu finden als in der von dem Ethnologen, Soziologen und Psychologen Gustave Le Bon bereits 1909 veröffentlichten Schrift Psychologie der Massen. Das Buch zeigt zweierlei: die frühe Affinität der Franzosen für den Strukturalismus und die relative Renitenz psychologischer Phänomene gegen technologische Halbwertzeiten.
Ist man gefeit gegen die Unwissenheit und die Borniertheit der politischen Korrektheit und braust nicht bei jeder Formulierung auf, die heute unüblich ist und ist man sich stattdessen bewusst, dass ein historischer Text in seiner geistesgeschichtlichen Relativität gelesen und verstanden werden muss, dann öffnet dieser Text nach über einhundert Jahren noch Horizonte. Le Bon ist es durch seine Vorgehensweise gelungen, indem er zunächst beschreibt, bevor er analysiert und wertet, das vor allem für das deutsche Publikum durch die Faschismustraumatisierung heikle Thema der Massenpsychologie zu einer rational erörterbaren Angelegenheit zu machen.
Die mit zahlreichen Beobachtungen hinterlegte These, dass die Masse die einzeln in ihr existente Individualisierung aufhebt und eine eigene, spezifische Handlungsweise und Reaktion hervorbringt, mündet zum Beispiel in der Feststellung, dass die Masse als solches eher träge und veränderungsresistent ist, aber auf der anderen Seite ein sehr feines Gespür aufweist hinsichtlich der moralischen Qualität der handelnden Protagonisten. Die These muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, ehe man sich erlaubt, die Aktualität allein dieser Aussage durch einige Beispiele aus der Alltagswelt zu verifizieren.
Die zentrale Funktionsweise massenpsychologischer Wirkung umschreibt Le Bon mit einer kausalen Folge, die beginnt mit der Behauptung, die durch Wiederholung gestützt und einen Nimbus abgesichert wird und letztendlich durch Übertragung auf die Masse wirkt. Diese Erkenntnis wird bis heute von erfolgreichen Werbeagenturen bis hin zu den Wahlkampfteams der politischen Parteien adaptiert und es macht regelrechten Spaß, anhand selbst gewählter Beispiele, das Modell anhand zeitgenössischer Modelle zu rekonstruieren.
Ein anderer Fall ist das durch den Strukturalismus begünstigte Denken des Autors, dass es so etwas wie eine Volkspsyche gäbe, die deterministisch wirkt und die unabhängig von einzelnen Staatsformen wirkt. Bei der Aversion gegen so genannte Klischees wird sich das deutsche Publikum mit diesen Teilen der Schrift schwer tun, obwohl es ratsam wäre, sich auch damit auseinanderzusetzen, weil bestimmte Hinweise auf den Nationalcharakter manchen Irrweg verstellen würde. Ebenso wertvoll ist le Bons Deklarierung der Vorstellung, vernunftgetriebene Argumentation könne das Agieren der Masse beeinflussen, als Illusion.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2011-06-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.