Der in Frankreich mittlerweile sehr bekannte Schriftsteller Laurent Mauvignier ist 2011 einem größeren Publikum in Deutschland bekannt geworden durch seinen Roman „Die Wunde“, mit dem er vor allen Dingen die französische Öffentlichkeit aufrütteln wollte, die quer durch alle politischen Strömungen das furchtbare Geschehen des Algerienkriegs, das brutale Vorgehen gegen die algerische Befreiungsbewegung und die skandalöse Behandlung der sogenannten pied-noirs nach wie vor verdrängt. Es formulierte ohne Worte fast auf jeder Seite die alte psychoanalytische Erkenntnis: was nicht bearbeitet wurde, was verdrängt wurde, gleich ob individuell oder gesellschaftlich, bricht als schwärende Wunde wieder auf und entlädt sich.
Auch in seinem neuen Buch geht es um Gewalt und um ihre Verdrängung. Ging es in „Die Wunde“ um die Verdrängung historischer Ereignisse, handelt das kleine Buch, das die Frage stellt „Was ist ein Leben wert?“ von einer ganz aktuellen Form von nackter und brutaler Gewalt, wie wir sie auch in Deutschland auf U-Bahnhöfen und anderswo erschütternd kennengelernt haben.
Laurent Mauvignier stößt im Dezember 2009 auf eine Zeitungsnotiz aus Lyon. Dort wird berichtet, dass vier Securitymitarbeiter eines Supermarktes einen Mann zu Tode geprügelt haben, weil der im Supermarkt eine Dose Bier geöffnet und getrunken hatte. Fast mehr als diese brutale Tat, beschäftigt den Autor der im Artikel zitierte Staatsanwalt, der sagte, wegen so einer Kleinigkeit dürfe doch ein Mensch nicht sterben.
Hätte es ein Sixpack sein müssen, ein ganzer Kasten oder „Was ist ein Leben wert?“ fragt Laurent Mauvignier in einer atemlosen, drängenden und bedrängenden Erzählung, die aus einem einzigen Satz besteht, der mit einem Bindestrich nicht endet.
Er folgt dem Geschehen, wie er es nacherzählen möchte. Ein Mann nimmt, nachdem er einen Supermarkt betreten hat, aus einem Regal eine Dose Bier und beginnt zu trinken. In Sekundenschnelle ist er umzingelt von vier Wachleuten, die ihn in einen Lagerraum zerren und dort auf ihn einschlagen und treten, weil sie ihn des Diebstahls verdächtigen.
Es wird bald aufhören, hofft der gepeinigte Mann in jeder weiteren Sekunde, doch es hört nicht auf. Immer wieder kommt Mauvignier auf diese Minuten in dem Lagerraum zurück, nachdem er zwischendurch erzählt, was sich danach abspielte. Von der Verhandlung vor dem Staatsanwalt, von der Beerdigung des Mannes und immer wieder von einem Bruder, den er eindringlich anspricht. Es blieb, mir jedenfalls, unklar, ob der zu Tode geprügelte Mann tatsächlich einen Bruder hatte. Ich fühlte mich selbst immer wieder angesprochen als dessen Menschenbruder, der nicht achtlos über solche Zeitungsmeldungen hinweg lesen darf, der sich berühren und bewegen lassen soll vom Schicksal anderer Menschen.
Die zunehmende Gewalt in unseren Gesellschaft wird von der Bindungsforschung mit der fehlenden Bindung nach der Geburt erklärt, Kirchen und anderen beklagen die Abkehr von bestimmten Werten, die Linken machen die profitorientierte Gesellschaft verantwortlich, und keiner weiß so wirklich, wie er reagieren soll. Eines weiß ich bestimmt: auch diese Form der Gewalt, die in unserer Gesellschaft nach wie verdrängt wird (auch der Ruf nach stärkeren Strafen ist nur ein Teil davon) wird wiederkehren. So wie alles Verdrängte wird sie an Stellen auftauchen in der Zukunft, wo man sie heute nicht vermutet.
Es ist die alte Frage: „Wo warst du, Abel?“
Laurent Mauvignier, Was ist ein Leben wert, DTV 2013, ISBN 978-3-423-14210-6
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-06-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.