Eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch
Die Literaturtheorie wird zusehends von Literaturmarketing abgelöst, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflusst die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, dass nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt. Daher eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch, die den Autor beim Wort nimmt.
Alles stimmt beim Herausgeber und Lyriker Axel Kutsch, weil alles bei ihm Dichtung ist, mit Dichtung zu tun hat. In seiner Lyrik hören die Sachverhalte auf zu sein und fangen an zu bedeuten. Seine Lyrik, zuletzt veröffentlicht in »Stille Nacht nur bis acht«, handelt nicht davon, was passiert, sondern wie Leser es erleben. Im Herbst 2009 erschien die bereits vieldiskutierte Anthologie »Versnetze_zwei. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart«.
Als Herausgeber von Lyrik-Anthologien hat Axel Kutsch einen ganz anderen Begriff davon, was diese Gattung leisten muß. Die von ihm herausgegebenen Bücher fügen sich ineinander mit eiszeitlicher, in geologischen Epochen denkender Zwangsläufigkeit, als eine fortschreitende Bewegung. Er denkt in Werkzusammenhängen, was ihn zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Zuletzt erschien »Versnetze zwei«, eine Anthologie, die nicht nach dem Alter, sondern nach der Postleitzahl sortiert ist. Zu entdecken ist eine Lyriklandschaft, die sich sowohl den Metropolen, als auch dem Hinterland widmet. Über seine Arbeit als Herausgeber von Lyrik-Anthologien sagt er ergänzend zum Projekt »Kollegengespräche«*:
„Der Verlag schreibt gezielt Autorinnen und Autoren an. Von den Einsendungen ist zwar nicht alles zu verwenden, aber es bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser übrig, mit denen man niveauvolle Anthologien füllen kann. Ich lege Wert darauf, nicht nur etablierten
Lyrikern ein Forum für Veröffentlichungen zu bieten, sondern auch solchen, die sich bisher erst in ihren regionalen Szenen einen Namen gemacht haben.“
Als Herausgeber ist Axel Kutsch ein Entdecker. Zwischen Verbindlichkeit und Freiheit, zwischen Hierarchie und Innigkeit, Ordnung und Chaos findet er auch die Nadeln im Heuhaufen. Er hat bereits frühzeitig erkannt, daß die aktuelle Lyrik auf einem viel höheren Niveau angesiedelt ist als die sogenannte Popliteratur. Die Postmoderne endete jedoch mit der Massennutzung des Internets, kaum niemand nimmt Notiz von ihrem Sterben, weil das Leben immer mehr von einer immer noch schneller werdenden, ja, wahnwitzigen Schnelligkeit geprägt zu sein scheint.
Im 21. Jahrhundert ist Selbstentblößung unter jungen deutschen Autoren ganz normal. Je lauter man brüllt, desto schlechter wird man verstanden, das heißt, je greller eine Entblößung daherkommt, desto weniger schockiert sie. In den Traditionslinien, die Axel Kutsch aufzeigt, geht es um die Rückkehr zur Aufklärung. Peter Hacks etwa hat sich immer gegen Brechts Aufklärungskunst gewandt. Seine Argument lautete: „Aufgeklärt sind längst alle, nun schaut man, was noch zu tun ist. Das stimmt aber leider nicht. Nun ist die Frage, zurück zur Aufklärung oder nicht?“ Axel Kutsch stimmt dem zu, aber nicht zu derselben Art von Aufklärungsliteratur. Einfach mit Aufklärung oder Klassik weiterzumachen geht gerade dann nicht, wenn man besonders stark damit sympathisiert. Das ist ein großer Gedanke Ezra Pounds: „Um etwas wieder zu tun, muss ich es neu machen.“ Tradition heißt „immer wieder anders dasselbe“.
Als Kutsch die Lyrik-Anthologie »Jahrhundertwende« vorbereitete, dachte er im Vorfeld laut über den Titel nach:
„Einige in meiner Umgebung haben mir geraten, die Anthologie »Jahrtausendwende« zu nennen. Das wäre mir zu bombastisch und zu vermessen. Mit einigem Glück wird die Menschheit die kommenden Jahrzehnte noch überstehen, aber kaum das nächste Jahrtausend. Wir haben es inzwischen soweit gebracht, dass das Denken in großen Dimensionen an Scharlatanerie grenzt. Im 20. Jahrhundert ist gnadenlos viel kaputtgemacht worden. Und so wird es weitergehen. Keine Aussicht auf Besserung. Ich blieb also bei »Jahrhundertwende«. Diese Thematik umfasst mancherlei Aspekte: Blick zurück in vergangene Epochen, auf die Gegenwart und in die nähere Zukunft. Das Buch ist ein inhaltlicher und stilistischer Fin-de-siècle-Seismograph zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik.“
Axel Kutschs eigene Gedichte, die in Büchern wie in »Einsturzgefahr« oder »Ikarus fährt Omnibus« nachzulesen sind, verknüpfen Assoziationen zu einem Bewusstseinsvorgang, der zwischen den Zeiten vermittelt, das Vergangene hervorholt, Träume realisiert und so Gedanken ins Sprachbild bringt. Es ist diese offene Form des Schreibens, die ihn immer am meisten interessiert hat. Eine offene Form, die sich selbst bildet. Axel Kutsch entwirft das Bild einer chaotischen Welt, aus der einen keine Geschichtsphilosophie, Meta-Erzählung oder Religion retten kann und feiert in seinen Gedichten gerade deshalb die Freiheit des einzelnen. Man möchte seine Anthologien nicht missen, ihm andererseits mehr Zeit für seine eigene Arbeit wünschen:
„Während der Wochen und Monate, in denen ich selbst mit der Zusammenstellung einer Anthologie beschäftigt bin, fällt mir meistens kein akzeptabler Vers ein. Aber niemand zwingt mich zu dieser editorischen Arbeit, die ja auch ihren schöpferischen Stellenwert hat. Ich mache das höchst freiwillig und ausgesprochen gerne, auch wenn damit eine gewisse Selbstausbeutung verbunden ist.“
Die Arbeit dieses Lyrikers besteht darin, dem Wesen des Menschen auf die Spur zu kommen, und zwar jenseits von Urteilen oder Therapievorschlägen, deshalb studiert er den Menschen sehr genau. Es muss Schriftsteller geben, die kritische Fragen stellen und hohe moralische Ansprüche vertreten – sonst bleibt nur die Barbarei. Wenn es stimmt, dass die Lyriker als letzte Sinnstifter gesucht werden, ist es ein gutes Zeugnis für die westliche Gesellschaft, dass sie Lyriker als öffentliche Stimmen derzeit nicht benötigt. Hauptsache, die Lyriker werden gelesen. Umgekehrt hat ein Lyriker, der die Gesellschaft erst beeinflussen will, bevor er sie beschrieben hat, seinen Beruf verfehlt. Gute Lyriker sind beim Schreiben kühl und unbestechlich. Und sie lassen sich beim Nachdenken viel Zeit. Wünschen wir dem Herausgeber und Lyriker Axel Kutsch noch viele Mußestunden.