Der geborene Pietroburger Kurkow lebt seit seiner Kindheit in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, schreibt aber in russischer Sprache. Der vorliegende Roman erschien erstmals 2018, also vier Jahre nach der Landnahme der Krim durch die russische Armee. 2019 erstmals auf Deutsch im diogenes Verlag.
Ein Bienenzüchter auf Nektarsuche
Sergej Sergejitsch, der Protagonist, ist Bienenzüchter in der grauen Zone in dem kleinen Ort Malaja Starogradowka. Die graue Zone liegt zwischen dem russisch dominierten Donbas und der Ukraine. Sein einziger Nachbar ist Paschka, sein ehemaliger Mitschüler mit dem er bis zum Tod wahrscheinlich kein Wort mehr geredet hätte, wäre nicht Krieg gewesen. Aber durch den Krieg sind die beiden in dem zur Gänze entleerten Dorf aufeinander angewiesen. Weniger logistisch als vielmehr sozial. Denn das Alleinsein wäre für beide noch schlimmer, als mit dem ärgsten Feind im selben Ort zu wohnen. Sergej hatte zwar auch eine Frau, Witalina, und eine Tochter, Angelina, aber die beiden leben längst woanders. So kann er sich hundertprozentig seinem Hobby, der Bienenzucht, widmen. Denn durch seine Arbeit in der Kohlegrube hat er eine Staublunge bekommen und da wirken die Bienen wie Medizin. Wenn es Sergej schlecht geht, schiebt er seine sechs Bienenstöcke zu einem Diwan zusammen und legt sich darauf. Auch der Gouverneur der Provinz tat dies vor dem Krieg gerne und belohnte Sergej dafür mit fürstlichen Geschenken. Aber weil er seinen Bienen etwas bieten will, macht sich Sergej auf die Reise, um ihnen neue Blütenreiche Felder zugänglich zu machen. So landet er auf der besetzten Krim und wird dort freundlich von der Familie eines befreundeten Bienenzüchters, Krimtartare, aufgenommen. Denn dieser wurde verschleppt und Sergej soll bei der Suche helfen. Inzwischen erwarten ihn aber nicht nur Gaja, die er auf seiner Reise kennenlernte zurück, sondern auch seine Frau Witalina. Und natürlich Paschka.
Stille Stunden inmitten des Krieges
"Er schlief zur Musik der Grillen ein und wachte mit dem Zwitschern der Vögel auf." Andrej Kurkow erzählt die Geschichte eines Einzelgängers, Sergej Sergejitsch, der es sich fern der Zivilisation gut eingerichtet hat und glücklich mit seinen Bienen lebt. Die Erinnerungen halten ihn dabei am Leben, aber auch die Aufgabe, es seinen Bienen gut gehen zu lassen. "Die Stille in ihrer ganzen Schönheit kehrte wieder ein." Ein Roman, der die stillen Stunden des Lebens feiert und lehrt, dass auch viel Glück im Zuhören liegt, statt im Lärm machen. Andrej Kurkow, geboren 1961, studierte Fremdsprachen (er spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Sein Roman "Picknick auf dem Eis" - auf Deutsch bei diogenes erschienen - ist ein Welterfolg. Kurkow lebt als freier Schriftsteller in der Ukraine und arbeitet auch für Radio und Fernsehen. Er erhielt viele Auszeichnungen, darunter Fulbright Visiting Scholar-Stipendium in San Diego, Kalifornien, USA, 2021; Ernennung zum Chevalier de la Légion d'Honneur durch den französischen Präsidenten François Hollande, 2014 und den Premio Gogol, Rom, 2012.
Andrej Kurkow
Graue Bienen
Aus dem Russischen von Sabine Grebing und Johanna Marx
2019, Taschenbuch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-257-24554-7
diogenes Verlag
€ (D) 13.00 / sFr 17.00* / € (A) 13.40
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2022-05-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.