Biographien Rezensionen Diskutieren im versalia-Forum Das versalia.de-Rundschreiben abonnieren Service für Netzmeister Lesen im Archiv klassischer Werke Ihre kostenlose Netzbibliothek

 


Rezensionen


 
Andrej Kurkow - Jimi Hendrix live in Lemberg
Buchinformation

„Wenn die Atmosphäre passt, dann kann man auch Kaffee aus einem Aschenbecher trinken! Und nicht nur Kaffee!“ Auf seinen Nierenstein-Abgang-Touren kommt Taras immer bei einer Wechselstube vorbei und bringt der sympathischen Frau hinter der Glaswand, Darja, Kaffee mit. Die schwarzen Aschenbecher mit der Aufschrift „Venezia“ eignen sich vorzüglich, da sie sich praktischerweise durch den Wechselgeldschlitz schieben lassen.

Kaffee à la tabac

Mit Lonja unternimmt Taras seine Taxifahrten über die holprigen Straßen von Lemberg, damit dieser seine Nierensteine verliert. So eignet sich etwa die Lissowa Straße für „kurze Vibrationen“, die Horodozka und Lytschakiwska für „lange Vibrationen“. Mit etwas Glück kann der von Taras Beförderte gleich am Wegesrand seien Rute abschütteln und so die lästigen Steine loswerden. „Er (Lonja) lebte wie ein Wort, das in einer unendlichen Aneinanderreihung von Wörtern die Interpunktionsregeln ablehnt, weshalb kein Satz zustande kommt.“ Aber Lonja ist auch kein Freund, sondern nur ein Kunde. Alik und Audrjus, die Hippies mit litauischem Akzent, sind ihm da schon etwas sympathischer. Zur Zeit des (kommunistischen) Regimes hatten die beiden eine Jimi Hendrix Fanclub gegründet und mit Hilfe des Geheimdienstes – wie sie zu ihrer eigenen Überraschung im Laufe des Romans erfahren - seine Hände (!) nach Lemberg geschmuggelt.

Das Polarlicht am Ende des Tunnels

Alik und seine Freunde hatten ihre traditionellen Versammlungen ihres Jimi Hendrix Fanclubs - jedem Lemberger als „Heiliger Garten“ bekannt, wie Kurkow süffisant beschreibt – praktisch direkt vor den Fenstern des Bezirksparteikomitees abgehalten. Dabei hatte sie der jetzige ehemalige Kommunist und KGBler aufgespürt, um sich ihnen jetzt, nach dem Umbruch, ebenfalls als Hendrix Fan zu erkennen zu geben. Jimi Hendrix hat sein Leben verändert. Taras wiederum hat Verständnis für seinen rabiaten Nachbarn, Jerzy Astrowski, der „sich vermutlich einfach nach Zuwendung und Mitgefühl sehnte oder zumindest nach Beachtung, diese jedoch nicht erhielt und daher Streit begann“. Außerdem hat er eine Schwäche für seine Nachbarin Oxana. Gemeinsam trinken sie einen Cocktail, der wohl noch aus den Ostzeiten stammt: Polarlicht. Er besteht aus einem halben Glas Wodka und einem halben Glas Sekt. Von Oxana bekommt Taras auch die Goldfische zum seinem eigenen Geburtstag, den er immer vergisst, geschenkt. „Gott liebt die Dreifaltigkeit!“

Lob der Nacht und der Liebe

„Manche Städte gibt es nur, damit jemand davon träumen kann, dort hinzukommen. Das Träumen ist manchmal wichtiger als das Hinfahren.“ Kurkow gibt viele schöne Gedanken preis, wie etwa auch diesen: „Die Zeit in der Nacht lässt sich schnell und unbemerkt verplaudern. Sie geht nicht wie eine Uhr. Sie setzt sich neben dich an den Tisch und wird so zum unsichtbaren Dritten, der das angenehme Gefühl der Unterhaltung wachhält, ein entspanntes Abgleiten in alte Erinnerungen zulässt. Die Nacht drängt nie zur Eile.“ Sein Protagonist Taras lobt den unschätzbaren Wert der Einsamkeit als Lebensform. Denn Taras Beziehungen dauern immer nur kurz und das Ende dieser Beziehungen war „jedes Mal eine mit nichts vergleichbare seelische Erleichterung begleitet von Erkenntnis des unschätzbaren Wertes der Einsamkeit als Lebensform“. „Stets musste er wählen zwischen Schweigen und Geschrei, aber was war das denn für eine Wahl?“ Ein neues Leben beginnt eben meistens mit einer neuen Frisur.

Andrej Kurkow, der in St. Petersburg geboren wurde, aber seine Kindheit in Kiew verbrachte hat nach seinem Welterfolg „Picknick auf dem Eis“ einen Roman geschrieben, der das bunte Kaleidoskop skurriler Charaktere nach dem Ende des Ostblocks in Lemberg in den buntesten Farben und mit viel Humor schildert. „Die Vergangenheit häuft sich, während die Gegenwart einen Augenblick verweilt und dann genau dorthin, in die Vergangenheit, davonsickert. Denn der Mensch im Allgemeinen ist eben der gewöhnlichste und elementarste lebende Apparat zur Umwandlung von Zukunft in Vergangenheit.“

Andrej Kurkow
Jimi Hendrix live in Lemberg
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing
2016, Taschenbuch, 416 Seiten,
ISBN: 978-3-257-24350-5
€ (D) 13.00 / sFr 17.00* / € (A) 13.40
Diogenes Verlag

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2020-03-18)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


-> Möchten Sie eine eigene Rezension veröffentlichen?

[ weitere Rezensionen : Übersicht ]

 

Anmelden
Benutzername

Passwort

Eingeloggt bleiben

Neu registrieren?
Passwort vergessen?

Neues aus dem Forum


Gedichte von Georg Trakl

Verweise
> Gedichtband Dunkelstunden
> Neue Gedichte: fahnenrost
> Kunstportal xarto.com
> New Eastern Europe
> Free Tibet
> Naturschutzbund





Das Fliegende Spaghettimonster

Ukraine | Anti-Literatur | Datenschutz | FAQ | Impressum | Rechtliches | Partnerseiten | Seite empfehlen | RSS

Systementwurf und -programmierung von zerovision.de

© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz

v_v3.53 erstellte diese Seite in 0.008795 sek.