„Der Hirsch ist in allem enthalten“, soll der bekannte deutsche Künstler Joseph Beuys einmal zu Johannes Stüttgen gesagt haben und er ist damit wohl nicht der einzige moderne Interpret geblieben, der das „urigste“ aller Leitmotive für sich in Anspruch nahm. Die in unseren Breiten wohl häufigste und zentralste Bezugsfigur aus der Tierwelt erhält durch Silke Krohns vielschichtige Deutungsbreite eine neue Dimension. Die Autorin weist eine Vielzahl von modernen Interpretationen des Hirschmotivs nach, etwa auch „Der kleine Hirsch“ (das Selbstbildnis mit Pfeilen) von Frida Kahlo, die gerade mit einer großen Ausstellung im deutschsprachigen Raum gewürdigt wird. „Allein streift der Hirsch umher/sehr traurig und voller Wunden/bis er bei Arcady und Lina/Wärme und ein Nest gefunden“, dichtete die junge Malerin in einer Art Selbstreflexion auf das Wesen des Hirsches eine Volksballade nach und meinte wohl auch sich selbst damit. Wer denkt nicht an sich, wenn er das zumeist stolze Abbild eines röhrenden Hirsches bewundert? Solche Anmut, solche Kraft und was genau steckt eigentlich dahinter?
Der Hirsch wurde im 20. Jahrhundert aber nicht nur durch die beiden oben genannten Künstler individualisiert und dem Volkstum entrissen, sondern auch durch Nikolaus Lang, der 1984 ein Hirschskelett am Rücken durch die Stadt Berlin trug, damals wollte er es als Hinweis auf die Wiedervereinigung verstanden wissen, die fünf Jahre später Wirklichkeit wurde. Auch die Ende der 50er aufkommende Pop-Art machte das Triviale zum Gegenstand der Kunst, so etwa Asger Jorn oder Peter Blake, der von Paul McCartney dazu beauftragt wurde, „something good“ zu malen und so entstand „After the Monarch of the Glen by Sir Edwin Landseer“, das eine Persiflage auf ein bereits bestehendes Gemälde des im Titel genannten Malers war. Peter Blake wollte damit auf die Kommerzialisierung und die Diskrepanz zwischen Rezeption und Kunstwert eines Werkes reflektieren. Weitere Maler der Moderne, die sich auf den Hirsch replizierten sind u. a. auch Gerhard Richter, Rebecca Horn und Gloria Friedmann oder Bernhard Johannes Blume.
Als Ausdruck von Stärke, Männlichkeit und Macht wird der Hirsch gerne gesehen und deswegen ist es wohl kein Wunder, dass gerade auf ihn Jagd gemacht wird und sein Geweih lange Zeit als bewundernswerte Trophäe galt. Aber auch der Aberglaube, die Kraft des Hirsches gehe auf seinen Bezwinger über galt lange Zeit als Rezept zum Erfolg im Kampf um das andere Geschlecht, wenn es darum ging, Frauen für sich zu gewinnen und stämmige Nachkommen mit ihnen in die Welt zu setzen. Auch wenn das traditionelle Jagdbild schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verloren habe, wie Silke Krohn schreibt, verfüge das Spannungsverhältnis zwischen Jäger und Beute immer noch über genügend Attraktivität, sie auch in der modernen Kunst noch als Sujet einzusetzen. Natürlich gibt es auch längst Beiträge von weiblichen Künstlerinnen, etwa Rebecca Horn, die das spezifisch „Männliche“ des Hirsches persiflieren, etwa durch ihr „Thermomètre d`amour“, das ein Hirschgeweih trägt und die Liebesfähigkeit auf einer Skala daneben anzeigt. Der Hirsch, der seit jeher als „göttlich, heilig, wohltätig, lebensspendend“ und „königlich, heldenhaft, treu, edel, tapfer und massvoll“ (Hans Drab) gilt und erlebt wird, hat in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine gewisse Umwertung erfahren, die Silke Krohn sowohl in kunstgeschichtlicher als auch philosophischer Manier präsentiert und zu einem amüsanten und sehr interessanten illustrierten Essay vereinigt hat. Ihre Arbeit wurde übrigens mit dem Doktortitel der Kieler Universität geadelt und bürgt so auch für sachgerechte und nicht reißerische Informationen, die sie gut und ordentlich recherchiert hat. „Nehmt dieses kleine Bild/das ich voll Liebe gemalt/als Gabe hin für Eure Zuwendung/und Eure unendliche Sanftmut“, heißt es in Frida Kahlos Widmung und wer weiß, wofür die Pfeile in ihrem Hirschkörper stehen, wird verstehen, wie schwer ihr diese Worte fielen, wie viel Gewicht ihre Pinselstriche enthielten.
Silke Krohn
Der Hirsch: Popularisierung und Individualisierung eines Motivs