Ums Jahr 2000 rum war Helmut Krausser mit dem Filmregisseur Tom Tykwer gut bekannt. Gespräche über ein gemeinsames Filmprojekt hatte es schon gegeben, als Tykwer den Hit „Lola rennt“ noch gar nicht vorgelegt gehabt hatte. Ein Filmdrehbuch vom damaligen Münchner und Mittdreißiger-Autor Krausser wurde es dann aber doch nicht, vielmehr die „Schmerznovelle“.
Der Ich-Erzähler ist Psychotherapeut. Bei einem Besuch in der Provinz, bei seinem Doktorvater Kappler, wird er sozusagen abgeordnet, sich um den Fall einer Witwe, Johanna Palm, etwa vierzig, zu kümmern. Innerhalb kürzester Zeit entblößt sie vor ihm ihre Brüste. Arzt und Patientin beginnen ein Sexabenteuer, gehässig von Kapplers jüngerer Frau belauert, mit der den Erzähler schon mal Ähnliches verbunden hatte. Seit dem Tod ihres Gatten Ralf scheint Johanna in einer Geisterwelt zu agieren, dass sie dem Verblichenen nun Bericht vom Sex mit ihrem Besucher abstattet, erscheint fast schon normal. Ralf Palm war Skandalkünstler. Zieht man Schlüsse aus der Schilderung einiger Werke und Aktionen, dann hat er für schaurige Ansichten mit Tod und Schmerz gestanden. Man denkt an die Bilder von Gottfried Helnwein und an das finster Kultische bei Hermann Nitsch. Johanna behauptet, im Keller ihres Hauses, im SM-Studio, habe Ralf sie den Honoratioren der Gegend als „Opfer“ für ihre sadistische Lustbefriedigung dargebracht. Tot sei Ralf übrigens keineswegs.
Von da an sucht Autor Krausser den Leser bis ganz knapp vor Ende immer in der Schwebe zu halten. Besteht Johannas seelische Erkrankung darin, innerlich einen Gatten nicht loslassen zu können, der sie überwältigt und manipuliert hatte? Oder geht Ralf als Dämon gar um, ist Johanna seine ferngesteuerte Voodoo-Puppe? Wie weit darf man sich auf die Schilderungen dieses Erzählers verlassen, immerhin eines Arztes, der die Verwirrung seiner Patientin für ein sexuelles Abenteuer ausnutzt! Und wie war das mit des Künstlers Selbstverbrennung? Besoffen und mit Benzin übergossen hatte Ralf in der Badewanne gelegen, jemand hat ein brennendes Streichholz fallen lassen. Er selbst? Die von ihm dirigierte Johanna? Seinem Willen folgend oder als Versuch, sich zu erlösen von ihm?
Manchmal behauptet eine mit tiefer Stimme sprechende Johanna, Ralf zu sein. Manchmal kommt das dem Erzähler wie die Wirklichkeit vor. Ralfs Mutter zeigt ihm ein Bündel Briefe, die sie in den Jahren seit dem Tod des Künstlers erhalten hat. Einerseits haben die ihr Kraft gegeben, andererseits müsse es sich um Fälschungen handeln, von Johannas Hand.
Von „literarischem Snuff“ ist in den Rezensionen 2001 geschrieben worden. Der Schriftsteller Helmut Krausser hat sich im großen, von ihm veröffentlichten Tagebücher-Zyklus ermahnt, nicht in die Falle der Pornografie zu tappen. Solche Worte wirken nachgerade wie kalkulierte Werbeappelle fürs Novellchen. Zum Porno wird dieser Text an keiner einzigen Stelle. Auch aufs Spezialthema Sadomasochismus als zwiespältige Erfahrung lässt Autor Krausser sich nicht wirklich ein, ja, er scheint die Erotik davon nicht mal zu kennen. Eher fällt auf, störend, wie rasch und sorglos manche Partien verfasst wurden, wie forsch Umgangssprache für Sexuelles verteilt wird. Sätze wie: „Sylvia turtelte mit dem alten Sack, bis es peinlich wurde.“ „Du hättest sie vögeln sollen.“ „Ich hatte nicht das Gefühl, in sie einzudringen, viel eher stülpte sie sich mir auf.“ „Ihre Fut spielte mit mir, masturbierte mit mir, ihre Schamlippen leckten mich und mit Aplomb ließ sie sich fallen, rieb ihren Arsch an meinem Bauch.“ Gut, dergleichen Wortwahl ist für manchen Leser identisch mit „Pornografie“, aber das ist sie nicht, der sexuellen Erregung dient keine Szene im Buch. Wir lesen stets aus einer Distanz.
Dieser Erzähler tut gern so, als hätte er ein paar uralte Menschheitsmythen in die Gegenwartskultur zurückgeholt. Nur welche und wozu? Wohin ihn seine Spielerei führen sollte, scheint ihm beim Schreiben selbst noch nicht bekannt gewesen zu sein. Dafür werden neben dem Faden der Erzählung reichlich popkulturelle Kinkerlitzchen aufgestellt, die den Lesenden bei Laune halten dürfen, Sexpartys, SM-Fetische, verbranntes Fleisch, diese lockende schwarze Witwe! Auf die Dauer kommt einem das dann wie eine Fingerübung vor zwischen so viel Trivialgrusel, wie eben noch toleriert wird, so viel Pseudoanspruch, wie erforderlich fürs Meinungsführer-Zeitungsfeuilleton. Am Ende verläuft es sich irgendwie. Lange wird man sich der Auflösung wohl kaum noch erinnern.
Ärgerlich an der „Schmerznovelle“ sind vor allem Krausses sprachliche Nachlässigkeiten. Immer schon, die Tagebücher dokumentieren das, ist er ein schneller Arbeiter gewesen, ausgestattet mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein betreffs seines künftigen Rangs innerhalb der deutschen Literaturgeschichte. Im Einzelnen war es eher wurscht, ob der eine oder andere skrupulösere Kollege den oder jenen Satz überzeugender hätte formen können. Oft scheint er zwischen zwölf und zwei nachts vom Flow überfallen worden zu sein, seinen Lauf gehabt zu haben, was ja wundervoll sein mag, dann jedoch problematisch wird, wenn ein Schreiber fünf oder fünfzig Tage hinterher nicht in der Lage oder nicht mehr willens ist, die ihm unterlaufenen Schnitzer im Rahmen einer Qualitätskontrolle zu erkennen und zu bessern. (Auf Lektorate kann man sich nicht mehr verlassen. Da muss alles ganz schnell gehen.)
Frage: Halten wir so eine Sprache dem Höhe- wie Schlusspunkt einer langen Erzählung für angemessen?
Zitat:
Ich schrie wohl stundenlang, über und über von spritzendem Blut besudelt. Ich schrie, als wäre die Welt nur ein Lärm, der zu übertönen sein müsse, um alles darin neu nach meinem Willen zu gestalten. Das Halbdunkel des Schlafzimmers war ein flüssig wabernder Raum, unter mir schwankte der Boden. Taub gegen mein eigenes Geschrei wurde ich ohnmächtig, die Schatten tanzten und quollen auf, mehr weiß ich nicht.
Bildfetzen der Verblutenden tauchen auf. Manchmal. In meinen Träumen. Der durchstoßene Hals, das Blubbern der klaffenden Wunde, ihre gurgelnden Versuche zu atmen, das stoßweise hervorprasselnde Blut, Schreie, Röcheln.
Ich schrie wohl stundenlang, über und über von spritzendem Blut besudelt. Ich schrie, als wäre die Welt nur ein Lärm, der zu übertönen sein müsse, um alles darin neu nach meinem Willen zu gestalten. Das Halbdunkel des Schlafzimmers war ein flüssig wabernder Raum, unter mir schwankte der Boden. Taub gegen mein eigenes Geschrei wurde ich ohnmächtig, die Schatten tanzten und quollen auf, mehr weiß ich nicht.
Bildfetzen der Verblutenden tauchen auf. Manchmal. In meinen Träumen. Der durchstoßene Hals, das Blubbern der klaffenden Wunde, ihre gurgelnden Versuche zu atmen, das stoßweise hervorprasselnde Blut, Schreie, Röcheln.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-10-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.