Die fantastische Unterhalter-Form seiner späteren Bände vom Beginn des 21. Jahrhunderts hatte der junge Autor (zirka dreißig) in jenen Jahren noch nicht. Er war noch nicht genug lässig, cool und grausam. Er schrieb zu oft und zu nachdenklich über die eigenen Texte.
Im Mai 1992 reist Krausser mit seiner Frau Beatrice nach Italien zu den Schauplätzen seines Opus magnum „Melodien“, eines fast tausendseitigen historischen Romans mit Krimianteilen, der über mehrere Zeitebenen hinweg von zauberkräftigen Melodien der Renaissance- und Barockmusik erzählt. Die Fahrt, eine Mischung aus letzter Recherche fürs fast beendete Werk und ganz normalem Mittelmeerurlaub: kein Meisterwerk deutscher Italienliteratur, unentschieden, von vielem ein Bisschen. Noch ist sich Krausser unsicher, ob er mit dem monumentalen Buch einen Durchbruch schaffen kann oder nur einen weiteren Achtungserfolg wie gerade erst mit dem Münchner Obdachlosen-Roman „Fette Welt“. (Dessen kommende Verfilmung mit Jürgen Vogel da noch keiner kennen konnte.)
Man staunt bereits bei diesem ersten Tagebuch über die Fülle und thematische Reichhaltigkeit. Krausser, der immer mitteilt, in welchen Büchern er gelesen und woran er geschrieben hat und den wir daneben beim Radfahren, im Biergarten, im Schach-Club, beim Shoppen oder beim Telefonieren in der Münchner Literatenszene sehen, scheint irgendwie drei Leben aufs Mal gelebt zu haben in derselben Zeit, die wir für eines benötigten. Möglich wurde eine solche Textfülle, weil das Tagebuch ursprünglich größtenteils vom Diktaphon stammt und später gründlich redigiert wurde, bevor es im Folgejahr in Buchform erschien.
Helmut Krausser, Sohn eines Berufsoffiziers, von dem er sich allerdings separiert hatte, sah sich seinerzeit dem Vorwurf ausgesetzt, ein politisch Rechter zu sein. Zu groß war seine Begeisterung über die Werke Ernst Jüngers, den er, wenn er die Alterswerke auch ungerührt senil nennt, zum unwidersprechbar zweit- oder drittbesten deutschen Autor des Jahrhunderts ernennt. Leider führt die dauernde Jüngerlektüre und das Nachhören barocker Komponisten zu einer von ihm selbst wohl nicht bemerkten Gestelztheit und Maestro-Trockenheit des Schriftstellers, der für seinen Platz in der Ewigkeit Anmerkungen hinterlassen möchte, die sich in hundert Jahren hoffentlich wie von Jüngers Enkel lesen werden. Mit der Zeit wird das zum Glück entspannter und verspielter werden. - Lyrik-Einschübe gibt’s auch hier einige und sehr bedeutend waren sie hier schon nicht.
Zitat:
Huysmans gebraucht für Nutten das Wort Liebesfleischerinnen. Erotometer (für Penis) ist übrigens von Lichtenberg. Ich verwende von nun an in meinen Texten immer weniger Wortspiele, die Gefahr eines ungewollten Plagiats ist verdammt groß. Neulich hab ich das Glück gehabt. Den schönen Satz: „Wer eigentlich hat seinen Tod schon erlebt?“ hätte ich beinah irgendwo in den Melodien verwendet, zum Glück fand sich keine passende Stelle. Nun nämlich lese ich bei Wittgenstein: „Noch niemand hat seinen Tod erlebt.“
Huysmans gebraucht für Nutten das Wort Liebesfleischerinnen. Erotometer (für Penis) ist übrigens von Lichtenberg. Ich verwende von nun an in meinen Texten immer weniger Wortspiele, die Gefahr eines ungewollten Plagiats ist verdammt groß. Neulich hab ich das Glück gehabt. Den schönen Satz: „Wer eigentlich hat seinen Tod schon erlebt?“ hätte ich beinah irgendwo in den Melodien verwendet, zum Glück fand sich keine passende Stelle. Nun nämlich lese ich bei Wittgenstein: „Noch niemand hat seinen Tod erlebt.“
Gut ein Jahr später staut sich das Rezensentenecho nach „Melodien“ gerade zur Sintflut des Triumphes hoch, während der Autor, der uns nebenbei schon mal verklickert, wir würden in einer Sterneära deutscher Literatur leben, die Besten wären in München versammelt (1993, er denkt an Andreas Neumeister und Albert Ostermaier, Fräuleinwunder und Leipziger Schule waren nicht bekannt), soll beim Klagenfurter Wettbewerb lesen, vorgeschlagen von Maxim Biller, zu dem er ein widersprüchliches Freundschafts-Abscheu-Verhältnis unterhält.
Krausser hat zu diesem Zeitpunkt noch keinen Literaturpreis erhalten; das wird sich im laufenden Jahr mit dem Tukan-Preis in München ändern. Den Ingeborg-Bachmann-Preis aber gewinnt Kurt Drawert (der vierte Preis für ihn) mit einem, findet Krausser, wirklich schlechten Text; auch sonst sei alles mies, was den Juroren gefällt. Die uneigentlich verwendete, „ranzige“ Sprache in der vorgelesenen Erzählung „Wege des Brennens“ werde als kalkulierte von der Jury absichtlich missverstanden und ihm mangelndes Sprachgefühl vorgeworfen, weil man einen großmäuligen Typen mit dem größten Verkaufserfolg unter allen Teilnehmern nun mal platt machen muss.
Die Klagenfurt-Passagen sind spannend für den außenstehenden Leser. Hier schreibt Krausser mit amüsanter Wurschtigkeit dem Eindruck gegenüber, den er auf feierliche Intellektuelle machen könnte. Er hält fest, wer von den Kritikern im Hotel an den Schriftstellern grußlos vorbeigeht, wie viel er jede Nacht trinkt und wie wenig Schlaf er sich genehmigt, wie Autoren sich gegenseitig verspotten und übers Business tratschen, wie mies das Fleisch im vom ORF großzügig spendierten Spitzenrestaurant mundet und wie oft er aus den Kollegenzirkeln ausschert, um in einen Spielsalon in der Altstadt zu gehen. Jünger wollte ein Herrenreiter sein, Helmut Krausser ist ein Zocker.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2015-06-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.