Von Anfang an ist sie da: die Frage nach der Vergangenheit, deren Beantwortung der Leser über Hunderte von Seiten nachhängt, wohl weil er spürt, mit ihr auch Aufklärung darüber zu erlangen, was wir aus dem Vergangenen zu lernen, welche Schlüsse wir daraus für die Zukunft zu ziehen haben.
Und wie immer, so stellt sich diese Frage auch hier, weil etwas im Verborgenen liegt, ja weil das Verborgene sich durch das Siegel des "Streng Geheimen" seiner Enthüllung entzieht. Wer sind die fünf Personen, über die in der stillen Abgeschiedenheit des Untersuchungsgefängnisses zu Gericht gesessen wird? Unter welchem Verdacht stehen sie überhaupt? Handelt es sich tatsächlich um mutmaßliche Terroristen? Mit diesen und ähnlichen Fragen wiegelt die Boulevardpresse lauthals die Öffentlichkeit auf, unter deren Ausschluß die streng geheime Untersuchung eingeleitet wird. Aber selbst im Innern der hermetischen Gefängnismauern herrscht solch strikte Geheimhaltung, daß nicht einmal der Untersuchungsprotokollist Anton über die Anklage informiert ist. Nur eines hat man ihm mitgeteilt und das kann seine Neugier nur anstacheln: seine Randbemerkungen, die er mit akribischer Vorliebe auf den Untersuchungsprotokollen anzubringen pflegt, werden vom Untersuchungsvorsitzenden diesmal nicht nur gebilligt, sondern gewünscht! Anton hat alles vorbereitet, das Magnetaufzeichnungsgerät überprüft und seinen Arbeitsplatz säuberlich hergerichtet. Sogar die kleine Justitia hat er abgestaubt, obwohl das nicht Antons, sondern die Aufgabe der Reinigungsmannschaft wäre. Anton denkt: Abstauben kann nicht schaden; man wird das Gerechtigkeitssymbol brauchen. Die Untersuchung kann beginnen.
Aus Antons Perspektive verfolgt der Leser, wie die fünf Angeklagten zum erstenmal vor den Richterstuhl treten: Der Berliner Oskar; der Vietnamese Long Sang; Sara, die Jüdin; George aus den Vereinigten Staaten; und Igor, der Russe; sie alle sind im Jahr 1949 geboren und auf unbekannten Wegen vor dieses Untersuchungsgericht gelangt. Aber welches Schicksal verbindet sie, was hat sie zueinandergeführt? Einer nach dem anderen beginnen sie zu erzählen, und nur langsam, nach und nach, entfalten sie ihre Geschichte stets begleitet von den fragend angebrachten Randbemerkungen Antons.
Kindheitserinnerungen treten aus dem Dunkel hervor: Oskar war froh, daß ihn niemand nach seiner Meinung fragte; was hätte er zur Antwort geben sollen? Etwa, daß seine erste Welt innerhalb der Hinterhofmauern war; die zweite sich unter dem Himmel der Insel befand; daß der Himmel zum einen an den Häusern, zum anderen aber an den Rändern der Insel befestigt sein mußte...
Erste und frühe Eindrücke von der Gewalt: Die Flüchtlinge hockten auf dem freien Platz und starrten in die Tiefe. Mit bloßem Auge konnte man gerade noch die Söldner erkennen; nicht aber die Hühner, nach denen Long Sang angestrengt Ausschau hielt. Aber er entdeckte keine, er hörte nur Schüsse fallen und sah, wie die Söldner kopfüber in die Reisfelder kippten, ohne wieder aufzustehen...
Dann das Hereinbrechen einer ganz neuen, ganz andersartigen Gewalt: Mitten auf einer belebten Straße ... baute sich Sara vor ihm auf, legte ihre Arme um seinen Hals, lächelte, daß die beiden Grübchen spitzbübisch sprangen, und küßte ihn. Und obwohl beide die Augen schlossen, drehte sich das irdische Jerusalem um sie im Kreis.
Jugendlicher Idealismus und politisches Engagement: "Macht Liebe, nicht Krieg", hauchte, zitterte und schrie George seinen jubelnden, kreischenden, tobenden Zuhörern entgegen, und das ganze Rund des belagerten Podests stimmte ein in den Protest: "Macht Liebe, nicht Krieg."
Schließlich, trotz aller Enttäuschungen, die Bereitschaft zum Wagnis: Als Igor merkte, daß er haarbreit vor seinem großen Sprung stehen konnte, daß ihn keine Monate, keine Wochen, womöglich keine Tage mehr von dem Ziel seiner Gedanken trennten, sagte er ja. Er sagte ja zur Angst und zur Unsicherheit...
Fünf Geschichten breiten sich vor Anton und dem Leser aus, die sich unmerklich zu einer großen Geschichte, zur Geschichte der Nachkriegszeit, verwringen. Und so wie Anton, der Sympathie, ja für eine der fünf Personen mehr als dies zu empfinden beginnt, wird auch der Leser unaufhaltsam in dieses Geschichtenbuch hineingezogen; ihm wird plötzlich erfahrbar, daß all die großen Namen, die er aus dem Schulunterricht kennt, nur die Schicksale unzähliger "kleiner" Namen verdecken. So wird hier auf höchst lehrreiche Wiese "Geschichte von unten" geschrieben. Nie aber schwingt sich Walter Kranz, der Liechtensteiner Autor des Romans, zum "Lehrer der Moral" auf, nichts liegt ihm ferner als die pathetische Geste einer rhetorisch hochtrabenden Ansprache; im Gegenteil: alles, was er erzählt, klingt wie "randbemerkt". Mit feinfühliger und gewitzter Hand ist Kranz das Kunststück gelungen, einen höchst unterhaltenden und dabei nie trivialen Roman zu schreiben und das bei einem der wohl heikelsten Stoffe der Gegenwartsliteratur. Unverkennbar steht sein analytisches Drama der Nachkriegszeit in der Tradition des schweizerischen, realistischen Erzählens, und nicht selten gemahnt seine Sprache um einen Gewährsmann des 20. Jahrhunderts zu benennen an Robert Walser: minutiös im Detail und von einer kindlichen Leichtigkeit, die jede ausladende Aufdringlichkeit vermeidet.
Am Ende des Romans, am Ende der fünften Untersuchungswoche erfahren wir endlich, wie die "Fünferbande" im Berlin der 80er Jahre zueinandergefunden hat. Und wir erfahren, wie der falsche Ehrgeiz von Polizei und Justiz und eine sensationslüsterne Presse mit aller Gewalt gerade fünf solche zu Terroristen stempeln wollen, deren Schlüsse aus der Geschichte, ihrer je persönlichen Geschichte, gerade auf das Gegenteil von Gewalt hinweisen. Somit findet nicht nur die uns von Anfang an begleitende Frage, was wir aus ihr für die Zukunft zu lernen haben, eine Antwort. Die Antwort könnte lauten (sie sei hier nur. dem Eingeweihten verraten): Nicht Gewalt ist es, wessen wir bedürfen, sondern Sensibilität und Humor, eben jene Tugenden, die auch die Tugenden von Walter Kranz' Roman sind. Klaus Middendorf (Lektor)
[*] Diese Rezension schrieb: Cyrill (2002-10-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.