Pierre Joseph Proudhon, ein Mann auf den immerhin der Ausspruch „Eigentum ist Diebstahl“ zurückgeht, soll schon 1851 den Pariser Wohnungsmarkt als „Festung des Kapitalismus“ gegeißelt haben und sich für Maßnahmen gegen den Mietwucher und Spekulanten eingesetzt haben. Ein repräsentatives Wörterbuch, das von Kocka nicht näher benannt wird, habe dann 1867 den „Neologismus“ Kapitalismus mit „Macht der Kapitalien oder der Kapitalisten“ beschrieben und auf eben diesen Proudhon verwiesen, so Kocka. Ende des 19. Jahrhudnerts soll diese Produktionsmethode schließlich von der sozialistischen oder kollektivistischen unterschieden worden sein, so Kocka, obwohl es letztere zu der Zeit ja i reali real noch gar nicht gab. Als gesichert gilt jedenfalls, dass der Begriff erst um die 1890er in der anglophonen Welt zu einem Diskurs- und Kampfbegriff geworden ist.
Kapitalismus und Deuteronomium
Kocka nennt dann die drei Klassiker Marx, Weber, Schumpeter, um die weitere Begriffsgeschichte näher zu beleuchten und die allgemeinen Charakteristika des Kapitalismus und seine Bedeutung bis heute zu erklären. Interessant und hervorzuheben ist dabei vor allem der Umstand, dass es den Kapitalismus in außereuropäischen Gesellschaften sogar schon früher gab und Kocka nennt dabei vor allem den Kaufmannskapitalismus Chinas und Arabiens. Die arabisch-indischen Ziffern und die Null wurden ab 1200 in Europa aus dem Orient übernommen und eine doppelte Buchführung alla Venezianaeingeführt. „Bankgeschäfte – Geldwechsel, die Aufnahme und Vergabe von Krediten, Wechsel- und Girogeschäfte, die den Zahlungsverkehr vereinfachten und eigene Gewinnchancen boten“ wurden von den Kaufleuten getätigt, natürlich gegen Zinsen, was dann vielen auch den Beinamen „Wucherer“ einbrachte. Im Deuteronomium (23,19-20) ist denn auch jene Stelle, die sich so verheerend auf Europa auswirken sollte, will dort steht, dass Christenmenschen Geldgeschäfte ausdrücklich verboten sind. Und so übernahmen die Juden – die ansonsten ja Berufsverboten unterlagen – diese zentrale Funktion des Kapitalismus, was immer wieder zu einer unheilbringenden Verknüpfung der beiden Begriffe führte.
Individuum und Gemeinwohl
Durch die Entstehung der Kolonialreiche schließlich kam es zum Siegeszug der kapitalistischen Arbeitsteilung und Produktionsform. Um 1500 kontrollierten die europäischen Mächte – an erster Stelle England – etwa 7% des Territoriums der Welt, um 1775 waren es 35%, so Kocka in Zahlen. Handel und Krieg waren zwei Seiten derselben Medaille und das Kapern von konkurrierenden bzw. feindlichen Schiffen gehörten durchaus zum üblichen Tagesgeschäft. Eine weitere wichtige Rolle spielte auch der Sklavenhandel, der vom 16.- 19. Jahrhundert immerhin 12 Millionen Afrikander nach Amerika „verschickte“, denn als nichts anderes als eine Ware wurden diese Menschen betrachtet und auch behandelt. Zwischen 1833 (Großbritannien) und 1888 (Brasilien) wurde die Sklaverei zwar abgeschafft, aber Marxens Diktum vom blutig und schmutzig zur Welt gekommenen Kapitalismus muss denn selbst Kocka zustimmen, auch wenn er in seinem „Ausblick“ am Ende des Buches den Kapitalismus durchaus als „zivilisierende Kraft“ betrachtet. Von der Kritik am Kapitalismus seien vor allem Klagen über die Unsicherheit, der unablässige Beschleunigungsdruck und die extreme Individualisierung sowie die allgemeine Erosion des Sozialen und Vernachlässigung des Gemeinwohls geblieben. Nicht vergessen werden darf, dass gerade die Kritik desselben zu seiner Zähigkeit und Lebensdauer wesentlich beigetragen hat.
Jürgen Kocka
Geschichte des Kapitalismus
Reihe C.H. Beck Wissen
Verlag C.H. Beck
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-11-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.