„Das Schild ist’s, das die Kunden lockt“, soll J. de La Fontaine einmal gemeint haben und damals war es für einen Geschäftsmann wichtig, ein solches zu haben. „Ghostletters“ spiegeln „typographische Moden und sozialtopographische Verhältnisse“ wider, schreibt der Herausgeber und bedankt sich artig bei der „crowd“, die dieses einzigartige Projekt finanzierte und so einen ganz besonderen Einblick in die Wiener Stadtgeschichte ermöglichte. Aber was sind Ghostletters eigentlich? Wer durch die Innenstadt (inklusive 4.-9. Bezirk) Wiens flaniert wird schnell verstehen, was damit gemeint ist. Über leerstehenden Erdgeschoßlokalen prangen sie heute noch: Buchstaben oder ihre Schatten, die auf ein Geschäft darunter verweisen und Aufmerksamkeit erreichen wollen. Viele dieser Geschäfte stehen heute leer, aber dennoch sind ihre Spuren noch zu sehen und sie erzählen eine Geschichte des Konsums, die erst noch geschrieben werden muss: die Ghostletters tun dies schon seit mehr als hunder Jahren.
Kulturgeschichte der Schilder
Mit Hilfe der Ghostletters lässt sich also auch so etwas wie Zeit einfangen, wie der Wiener Künstler Franz Zadrazil zitiert wird und das ist es doch, was Flaneure in einer Stadt suchen. Es geht weniger um’s Shopping, als um die Erfahrung von Geschichte, die auf diese Weise spürbar wird, denn es spiegelt sich ja nicht nur der Konsum wider, sondern auch kulturelle Phänomene und Eigenheiten. So geht die Zunft der Schildermaler eigentlich bis auf die Wappen und Farben der Ritter zurück und Herolde schmückten alsbald auch die Häuser der Innenstädte mit Zunftzeichen. In Wien habe sich die Schildermalerei ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer regelrechten Kunstform entwickelt und erreichte sogar in der „Ornamentik des Jugendstils einen handwerklichen Höhepunkt“. 200 Werkstätten soll es um die Jahrhundertwende in Wien gegeben haben und diese wurden in der ganzen Monarchie bewundert, zeigten und zeugten sie doch von einem vielfältigen und vitalen Stadtleben.
Flanieren in Fotos und Bildern
Aber nicht nur Schilder kamen zum Einsatz, sondern auch Metallbuchstaben, die an den Fassaden befestigt wurden und meiste tiefere Profile hatten. Die liebevoll aufgearbeitete Stadtgeschichte Wiens mittels Reklameschildern zeigt auch die höchste Reklametafel der Welt, das Geheimnis um das Geschäft mit dem „P“ oder das Logo eines Buchbindereibedarfs, das sogar einen französischen Designer herausforderte. Am Ende der Publikation befindet sich für beflissene Flaneure auch eine Wien-Karte mit den eingezeichneten Orten der im Band dargestellten Bilder von Schildern. Wo Sie das also alles finden? Natürlich in Wien! Wo sonst?
Tom Koch
Ghostletters Vienna
Spuren urbaner Identität
Traces of Urban Identity
Photography Daniel Gerersdorfer/Stephan Doleschal
Zweisprachig Englisch/Deutsch
Falter Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2016-12-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.