Margit Knapp - Turin. Eine literarische Einladung. Reihe SALTO.
Buchinformation
"Man sagt: Am Ende bist du das, was du gedacht, geliebt, vollbracht hast." Deine Reichtümer sind deine Erinnerungen, die, die du nicht in dir ausgelöscht hast, schreibt der 2004 leider verstorbene Turiner Autor Norbert Bobbio in seinem Beitrag zu vorliegendem Kompendium zur norditalienischen Stadt Turin. Hier wurde nicht nur der Einaudi-Verlag gegründet, auch Natalia Ginzburg, Cesare Pavese, Italo Calvino, Norberto Bobbio, Primo Levi schrieben in Turin. Heute leben etwa Alessandro Baricco oder Dario Voltolini in der Literaturmetropole die mehr als nur Erinnerungen zu bieten hat. "Möge es dir gestattet sein, so lange zu leben, wie die Erinnerungen dich noch nicht fliehen und du dich in sie flüchten kannst", lautet der fromme Wunsch Bobbios. Aber Turin ist nicht nur eine Stadt schöner Erinnerungen, sondern auch einer aufregenden Gegenwart, wie hier auch jüngere Autor:innen und Autoren Elena Loewenthal, Alessandro Baricco, Giuseppe Culicchia, Dario Voltolini, Paola Mastrocola, Enrico Remmert und Giorgio Olmoti beweisen.
Eine literarische Reise nach Turin
"Wenn wir einander verliessen, schien es uns nicht, als trennten wir uns, sondern als warteten wir anderswo aufeinander", schreibt vielversprechend Dario Voltini in "Straßen in die Stadt". Andrea Camilleri ist dankbar, dass die "Zigeunerjungen in Agnellis Schrank" glimpflich mit ihrem Einbruch davonkommen, denn auch das ist Turin: Fiat und Autoindustrie, Mole Antonelliana, Porta Palazzo, der größte Markt Europas, der Flohmarkt Balón, wo Piemontesen und Immigranten aufeinander treffen, und von vieles andere. Einerseits die bürgerliche schöne Barockstadt mit den ockerfarbenen Arkaden, andererseits die Industriemetropole, die Stadt von Fiat und Juventus. Aber auch historisches bietet Turin: von hier ging unter Graf Cavour und Giuseppe Garibaldi 1861 die Einigung Italiens aus. Hart ins Gericht geht etwa Sebastiano Vassalli mit seinen Mitbürgerinnen, wenn er in "Ein Turiner Verleger" schreibt: "Das kleine und edle Italien der Dreißigerjahre oder der Dreihunderttausend, die auf den Rückzugswegen gegen die Faschisten und Deutschen kämpften, hat bereits seine eigene beachtenswerte Literatur, sie ist das Feigenblatt, dessen sich das andere Italien, das unedle der vierzig Millionen Exfaschisten, in der Folge bedient hat, um seine Scham zu bedecken." Ganz schamlos geht es hingegen in Paolo Giordano's Beitrag Nora zu: "Wir trugen die Perücken, und ich machte das gebrochene Englisch eines Russen nach, in gewisser Weise waren wir also wir selbst und auch wieder nicht, aber vielleicht ist das immer so, wenn man jemand Neuen auf die Lippen küsst."
Eine (literarische) Wahlheimat für viele
"Nun steht Weihnachten vor der Tür", schreibt Primo Levi, geborener Turiner, in "Der Letzte", und sie holen sich eine Menashka, einen Essnapf aus verzinktem Blech aus zwei Stücken Regenrinne gefertigt. Seine Geschichte spielt im Lager und handelt von Alberto und Lorenzo. "Wir haben die Menashka aufs Bett gehoben, wir haben geteilt, wir haben die Wut des täglichen Hungers befriedigt, und jetzt bedrückt uns die Scham." Martina Merletti, geborene Turinerin, wiederum macht sich auf die Suche nach dem "Ursprung des Po". "Es war einer jener Sonntage, an denen sich die Leute in Pantoffeln zu Hause verbarrikadierten und anfangen, über die Weihnachtsgeschenke nachzudenken, und an denen niemand im Wald ist." Antonio Gramsci war übrigens Wahlturiner, andere Biographien der in vorliegendem Band versammelten Autor:innen finden sich im Anhang sowie ein Quellenverzeichnis der Beiträge natürlich. Also genug Lesehinweise um gut über die Weihnachtsfeiertage zu kommen und eine Reise nach Turin für 2023 zu planen.
Die Herausgeberin Margit Knapp, geboren 1960 in Schwaz/Tirol, promovierte in Wien über Italo Svevo und lebt seit 1990 als Lektorin, Filmautorin und Publizistin in Berlin.
Margit Knapp (Hrsg.), Maria Carmen Morese (Hrsg.)
Turin. Eine literarische Einladung. Reihe SALTO.
2022, 144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1368-9
Wagenbach Verlag
20,– €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2022-11-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.