Die Weltausstellung von 1889, für die der „tour de 1000 pieds“ eigentlich projektiert worden war, hatte so wie viele andere Weltausstellungen davor und danach eine zutiefst imperialistische, ja gar kolonialistische Seele. Fremde Zivilisationen, ja „das Fremde“ per se wurden als Exotika vorgeführt, schreibt Kluy, „als sichtbare, von der westlichen Hemisphäre überwundene Überbleibsel früherer Stufen menschlicher Entwicklung“ und traten somit den Beweis an, dass die eigene Kultur doch die überlegenste sei. Die „Kunst- und Wunderkammern“ gingen sogar soweit, auf einer Insel auf der Seine in Paris die Kasbah von Kairo nachzubauen. „In Summa“ (sic), so wieder Kluy, habe sich diese „umgekehrte Authentizität“ stets als umgekehrter Tourismus gebahrt: „Die Ferne reiste an“. So war die „Orientalisierung des Orients“ eine Projektion in die Vergangenheit der (primitiven) menschlichen Kultur, genauso wie der Eiffelturm eine Projektion in die Zukunft der (überlegenen westlichen) menschlichen Kultur sein sollte. Der „Tour Eiffel“ zählte schon vom ersten Tag seiner Eröffnung, dem 5. Mai 1889, tausende Besuche, bis es im 20. Jahrhundert jedes Jahr 7 Millionen Besucher wurden. In den 125 Jahren seines Bestehens wurde er also schon von mehr als einem Achtel der Menschheit bestiegen, wenn auch in verschiedenen Epochen und von verschiedenen Generationen, so zählt der „Laternenpfahl“ doch zu der/dem „Projektion, Projektor und Phantasma“ der Moderne schlechthin. Und es gilt wieder einmal, wie Kluy so schön Joseph Roth zitiert: „Das Diminutiv der Teile ist eindrucksvoller als die Monumentalität des Ganzen“. So viel Aufsehen für ein paar Eisenbahngeleise die in den Himmel zeigen. „The sky is the limit“ als Chiffre für die heraufdräuende Moderne.
200 Arbeiter und 2,5 Millionen Nieten
Obwohl auch andere wie etwa Sauivestre, Nouguier und Koechlin entscheidendes zum damals „höchsten Turm der Welt“ beitrugen, verschwand das Projekt alsbald hinter dem Namen Gustave Bönickhausen-Eiffels, der seinen Namen alsbald auf das französisch besser klingende „Eiffel“ verkürzte. „La père de la Tour, c’est Eiffel – mais l’idée et les calculs, c’est moi“, soll Koechlin zum 50. Jubiläum des Turms, 1939, gesagt haben, aber da war Eiffel längst tot. Der Turm aber überdauerte seinen Erfinder und seine vorerst auf 20 Jahre festgesetzte Lebenszeit um mehr als ein Jahrhundert, was vielleicht auch an den 2,5 Millionen Nieten mit den die 18.000 Einzelteile mit einem Gesamtgewicht von 7500 Tonnen zusammengeschweißt wurden, liegen mag. Der „Tour de Soleil“ wurde ernsthaft eigentlich nur bei seiner Erbauung bedroht, als die 200 Arbeiter, die ihn errichteten, eine Lohnerhöhung forderten und in Streik traten. Die unzähligen Kritiker, die der dreihundert Hohe Turm der Moderne auf den Plan rief, nützten ihm vielmehr als sie ihm schaden konnten und trugen wesentlich zu seinem weltweiten Ruhm bei. Bis ins Jahr 1930 blieb er der höchste Turm der Welt und wurde dann erst vom Chrysler Building in New York mit 318m übertroffen. Aber das war ja kein Turm.
Fanal der Moderne
„Ingenieure, schafft neue Formen“, stand auf einem Transparent, das Studenten in den Zwanzigern singend durch die Straßen Moskaus trugen. Wladimir Tatlin hatte die Spitze seines Monumentes der Dritten Internationale mit demselben Spruch gekrönt – allein der Turm besteht heute noch nur als ein Modell. Ausgerechnet der Kapitalismus sollte die Losung der Kommunisten nach neuen Formen ermöglichen und dies noch dazu mit französischer Elégance. Aber natürlich gab es auch hier – im Westen – Kritiker des Maschinenzeitalters, die in dem Turm vor allem eine Provokation sahen, die Paris verschandele. Die „Tendenz zum Spektakel“, das „Knochengerüst“, das „scheußliche Skelett“, „Arc de Triomphe der Industrie“, „Turm zu Babel“, „Vulcanus“, „Zyklop“, „Spinnengewebe aus Metall“ usw usf waren die noch weniger verstörenden Bezeichnungen mit denen der Eiffelturm von ihnen bedacht wurde. „Ölbohrturm“, „Fabrikschornstein“, „Notre-Dame des harten Herzens“, Kirchturm der Hochfinanz schmeichelten noch etwas weniger, bis selbst ein vorläufiger Kritiker wie Sully Prudhomme eingestehen musste: „die großartige Kühnheit diese Bauwerks zu begrüßen und zu bewundern, eine Kühnheit deren Majestät“ jeden zufrieden stellen muss, aber auch ein Zeichen dafür, dass der Mensch fest entschlossen ist, in den Himmel vorzustoßen und ihn zu erobern.“ Zur Erinnerung: das Flugzeug der Gebrüder Wright erhob sich erstmals 1903 in den Himmel.
„La tour qui écarte les jambes“
1889 wurde in Paris aber nicht nur der Eiffelturm eröffnet, sondern auch das Moulin Rouge und im bulgarischen Pavillon der Weltausstellung das Joghurt der Öffentlichkeit übergeben. Im selben Jahr wurde auch Adolf Hitler geboren, der späte neidvoll zugeben musste, dass es nur eine Stadt im „Reich“ geben würde, die Paris das Wasser reichen könnte: Wien. Den Eiffelturm bestieg der Massenmörder Hitler zwar nie, aber dennoch inszenierte ihn sein Haus und Hoffotograf Hoffmann vor dem Chiffre der Moderne. Ein Foto zeigt ihn mit gekreuzten Armen als Vollstrecker der Weltgeschichte vor dem dreieckigen Turm. Hitler auf dem Trocadéro, das kam dem Untergang des Abendlandes gleich, denn selten in der Geschichte zeigte sich auf einem Foto so deutlich die schreckliche Maske der Moderne deutlicher und selten wurde ihr Widerspruch in einem einfachen Bild deutlicher gemacht. Der tour de trois-cent-mètres überlebte aber selbst diesen Angriff auf seine Integrität und strahlt auch heute noch mit hellem Licht als Leuchtturm der Moderne.
Hyperimage der Postmoderne“
Alexander Kluy beleuchtet die Geschichte des Turms in der Kunstgeschichte, der Fotografie, dem Film und der Literatur in West und Ost und vergisst auch nicht seine Strahlkraft für die Sowjet zu erwähnen, wo in den Dreißigern „Technikvergötterung und Machbarkeitswahn die neue künstlerische und kulturelle Elite erfasst hatten“. „Wir haben die Ideale – sie haben das Klima“, heißt es in „Ninotschka“, einem Film Ernst Lubitschs aus jener Zeit, als die Moderne noch ausschließlich gut war. Die „Kathedrale des 20. Jahrhunderts“ ist für jede Interpretation offen – so auch Kluy – und biete als „hyperimage“ eine Menge an Interpretationsspielraum. Im vergangenen Jahrhundert wurde er von trickreichen Scharlatanen schon zweimal verkauft, eine Elefantendame des Zirkus Bouglione 1948 in den ersten Stock gejagt, 350 Selbstmörder beehrten den „Sakralbau der Moderne“ bis 1971, bis die offizielle Statistik sich weigerte weiterzuzählen und dabei wurden die hommes oiseaux, die ihr Flugtalent zeigen wollten, noch gar nicht mitgezählt. „J’ai vu pousser la tour Eiffel“ – „Ich habe den Eiffelturm wachsen sehen“, ja, tatsächlich, denn er wird seine Bedeutung auch im 21. Jahrhundert niemals verlieren...
Alexander Kluy
Der Eiffelturm. Geschichte und Geschichten.
matthes&seitz 2014
352 Seiten
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-07-21)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.