Oberkampf. Keine Angst, wer den Titel dieses neuen Romans des Journalisten Hilmar Klute liest, wird vielleicht zusammenzucken, aber es geht um nichts Martialisches. Vielmehr steht die "Rue Oberkampf", also eine Straße in Paris, die sich in der Nähe des Vergnügungsviertels Marais befindet, am Anfang dieser Reise zur Literatur. Die Straße steht für eine Bar nach der anderen, gut gelaunte Menschen, Bistros und Strassencafès: das pralle Pariser Leben. Einerseits.
Berlin, Paris, L.A.
Aber andererseits: Es gibt einen Stachel in diesem sorglosen Leben. Nicht nur, dass sich der Protagonist Jonas Becker gerade von seiner Freundin Corinna getrennt hat, sondern auch seine Arbeit an der Biographie des österreichischen Schriftstellers Richard Stein erweisen sich mehr und mehr als Mühsal des Lebens. Oder soll man gar von Lebensüberdruss sprechen, wenn er sich sogar in die Perspektive der Bataclan-Attentäter versetzt, um möglichst alle menschlichen Befindlichkeiten auszuloten? Jonas, Fabian und Corinna hatten in Berlin eine Agentur, "Kluge Köpfe", aber der Auflösungsprozess der Beziehung ergänzte perfekt die berufliche. Da sollte der Umzug von Berlin nach Paris wie eine Offenbarung für eine neue Perspektive wirken. Aber der 86-jährige alte Mann mit seinen Obsessionen geht dem um die vierzig Jahre alten Biographen bald gehörig auf die Nerven. Zumal sich Jonas neu verliebt hat, in eine Französin diesmal, Christine, die der bevorstehenden L.A.-Reise ihres Liebhabers mit dem alten Mann mit gemischten Gefühlen entgegensieht. Richard Stein hat nämlich einen Sohn, Elias, der in Los Angeles verschollen ist und um diesen dort wiederzufinden, missbraucht er nun Jonas. Aber es gibt noch einen Mann der damals mit Franca, der Mutter von Elias, ein Verhältnis hatte. Christine erwartet Jonas jedenfalls zurück und kauft zwei Karten für ein Konzert im Bataclan, das Konzertlokal, das 2015 international zu trauriger Berühmtheit gelangte. Am Programm stehen an diesem Abend die Eagles of Death Metal. Zudem stellt sich bald heraus, dass die Trennung von Corinna noch einen weiteren Stachel in sich birgt. Denn Jonas bekommt in "seinem" Paris bald Besuch von Fabian aus Berlin.
"Tüte voll Wortmüll"
Wer die Ereignisse um das Bataclan 2015 mitbekam wird etwas enttäuscht sein, dass "Oberkampf" das Attentat nur als Rahmen der Handlung absteckt, nicht jedoch den Plot selbst. Mit Jonas Becker wurde eine mitleidserregende Figur geschaffen, die verzweifelt nach Orientierung im Leben sucht und sich immer mehr bewusst wird, dass diese nicht von alten weißen Männern kommen kann. Die Reise nach L.A. wirkt etwas aufgepfropft und ist als Handlungsstrang nicht wirklich vielversprechend, sollte sie doch eigentlich die Spannung erhöhen. Mit welcher Abscheu dann Elias von Jonas beschrieben wird ("Ratte") und auch Stereotype über Franzosen von diesem breit getreten werden, stimmt bedenklich. Jonas ist ein abgehobener Kauz, der sich durch seine Liebe zur Literatur und ihren Helden der Welt immer mehr entfremdet. Man denkt dabei an Moravias Dino, Camus' Meursault oder Sartres Roquentin, allesamt traurige Repräsentanten einer vergangenen literarischen Epoche. Jonas' Vorbehalte gegenüber allem und jedem und seine unverhohlene Sympathie für die Attentäter von Charlie Hebdo liest man unbehaglich. Doch man liest weiter, um zu erfahren, ob sich Jonas nicht doch noch zu einer positiven Figur entwickeln könnte. Aber: "Als der Kassenwart die Tür hinter ihm schloss, hatte Jonas zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, endgültig entkommen zu sein." Und sitzt in der Falle.
Hilmar Klute
Oberkampf. Roman
2022, Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-86971-215-4
Galiani Berlin
22 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2022-04-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.