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Angelika Klüssendorf - Das Mädchen
Buchinformation
Klüssendorf, Angelika - Das Mädchen bestellen
Klüssendorf, Angelika:
Das Mädchen

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(Bücher frei Haus)

Am Anfang fliegt Scheiße aus dem Fenster. Sie landet auf dem Bürgersteig und auf dem Strohhut einer Passantin, der Briefträger kann sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Das zwölfjährige Mädchen, dessen Geschichte in diesem wunderbaren und bewegenden Buch erzählt wird, wirft die Scheiße aus dem Fenster einer Wohnung im dritten Stock, um auf sich aufmerksam machen, um zu zeigen, dass es sie noch gibt. Denn sie und ihr sechsjähriger Bruder Alex sind seit Tagen in der Wohnung eingeschlossen. Da sie die auf halber Treppe befindliche Toilette nicht erreichen können, verrichten sie
ihre Notdurft in einen Eimer. Irgendwann kommt die Mutter wieder nach Hause, doch das ändert nichts.

Denn die Geschichte der Kindheit und der Jugend dieses Mädchens, die Angelika Klüssendorf da mit durchaus autobiographischen Bezügen erzählt, ist traurig und furchtbar. Während er sich von der knappen und sehr präzisen Prosa Angelika Klüssendorfs immer mehr angezogen fühlt, wird der Leser von einer Katastrophe in die andere geführt. Denn mit jeder beschriebenen Episode aus dem Leben des Mädchens wird es schlimmer.

Die Mutter des Mädchens arbeitet in einem Mitropa-Restaurant und ist auf eine Weise asozial und brutal, dass einen an manchen Stellen beim Lesen die nackte Wut packt. Doch das Mädchen ist stark, niemals ruft sie um Hilfe. Sie findet Trost in der Lektüre von Dumas' "Der Graf von Monte Christo", ein Buch, das sie einmal, um es ganz für sich behalten zu können, vollständig in mehrere Hefte abschreibt. Ihr bisheriges, von Prügel, Alkohol und fremden Männern im Bett der zunehmend verwahrlosenden Mutter hat sie hart gemacht. Sie lügt, sie stiehlt, schwänzt die Schule, und später, als sie vom Jugendamt in ein Heim gebracht wird, verprügelt sie auf brutale Weise wehrlose Kinder.

Die Geschichte des Mädchens spielt in der DDR und zeigt, welches hässliche Gesicht dieser Staat auch hatte, welche Asozialität auch durch exzessiven Alkoholkonsum sich dort an den unteren Rändern einer Klassengesellschaft, die keine sein durfte, breit gemacht hatte. Doch diesen Teil der DDR zu zeigen, ist gar nicht das wesentliche Anliegen einer Autorin, die mit nüchternen Worten und ganz genau sich in die gequälten Seelen ihrer Figuren einfühlend, deren Ausweglosigkeit beschreibt.

Doch "Das Mädchen" sucht immer wieder Auswege, sie flieht aus dem Heim, wird wieder zurückgebracht, sie gibt auf ihre eigene Weise nicht auf. Mit dem Wort Hoffnung wäre nicht ausreichend beschrieben, was sie treibt und nicht ruhen lässt. Es ist ein ihr selbst wohl erst später bewusst werdender Prozess der Selbstfindung mitten in einer absolut hoffnungslosen Existenz. Später im Heim ist es die Literatur, in der sie Halt und Trost findet. Regelrecht süchtig liest sie Bücher von Hemingway, Zola und Balzac.

Man spürt schon bald, dass dieses Mädchen an dem, was ihr da widerfährt, an ihrem fruchtbaren Leben nicht zerbrechen wird. Man spürt, dass sie überleben wird.

Angelika Klüssendorfs Roman ist eine bewegende und in seinem Ansatz sehr radikale Coming- of- Age-Geschichte, sprachlich auf höchstem Niveau und war deshalb verdientermaßen auf der Short-List für den Deutschen Buchpreis 2011. Ein Buch, das einen mit Spannung auf Klüssendorfs nächstes warten lässt.

Angelika Klüssendorf, Das Mädchen, Fischer Taschenbuchverlag 2013, ISBN 978-3-596-19455-1

[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-07-09)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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