„Manchmal sehne ich mich zurück nach der Zeit, als wir noch in Opposition waren, es gab kein wucherndes, waberndes, chaotisches Stadtgebilde zu kontrollieren, sonder nur die Stimme des eigenen Daseins“, meint Barthelms, der Obervampir, während er auf seine Stadt, Berlinoir, hinunterblickt, die von Werbeplakaten wie etwa „Solidarität hilft siegen. Gebt Blut“ nur so gespickt ist. Die Vampire haben gesiegt, und zwar in ganz Berlinoir, auch wenn die Parolen an die DDR erinnern mögen, ist diese Stadt, eine geeinte Stadt, in der sogar die Heilanddarstellungen auf den Kreuzen mit Vampirzähnen versehen sind. Die katholische Kirche ist ein gutmütiger und wohlwollender Verbündeter der neuen Machthaber, sie bekommt schließlich ihre Prozente und von den Autoren ordentlich ihr Fett ab: „Ihr Nächtlichen seid genauso seine Schöpfung, wie wir Alltäglichen. Und solange sich Berlinoir nicht gegen die Heilige Schrift versündigt, bleibt diese Stadt wohlgefällig und mit ihr Du und Dein Amt“, hechelt der Bischof in der „Nicolas Szerbenmundt-Gedächtniskirche“. Aber im Untergrund regt sich längst der Widerstand. Auch wenn sich das Volk längst arrangiert hat, gibt es ein paar unverbesserliche Idealisten, die glauben, Berlinoir durch einen Aufstand zu einem besseren Platz machen zu können. „Der Aufstand hat ooch niemandem wat einjebracht“, berlinert es von der Thekenseite her.
„Ick bin ein Berlinoirer“
„Ick bin ein Berlinoirer“, wird kein ausländischer Befreier rufen, denn Berlinoir kann sich nur selbst befreien und dabei hilft auch, dass es auch unter den Vampiren selbst Intrigen und Machtspiele gibt, als der mächtige Herrscher fällt, führen die Diadochenkämpfe sogar zu einer Teilung in Nord- und Südberlin (!). Aber: „Die Ewigen erkennt man an ihrer Geduld. Nun geh und spiele mit deinesgleichen“ ist ein Tipp, den nicht nur die „Alltäglichen“ berücksichtigen sollten, denn jede Burg braucht nicht unbedingt einen König, aber unbedingt einen Narren. Und gerade diese Narren sind es, die Imperien und durchaus auch kleinere Reiche zum Einsturz bringen können. „Steck mich nich an, du verseuchter Nossi“, ruft dann eine Bewohnerin der Südzone dem selbsterklärten Befreier entgegen. Die Propaganda von Rada, der Herrscherin von Süd-Berlinoir, hat gefruchtet und so tun sich selbst Befreier schwer, wenn sie als Träger einer Seuche bezeichnet werden, die den Süden zu der Tristesse gemacht hat, die er tatsächlich ist.
Titanic-Gefühl mit Einstürzende Neubauten-Ästhetik der 80er
Reinhard Kleist hat schon mit seinem Werk DER BOXER (Rezension auf dieser Buchseite) für Furore gesorft. Er konnte sowohl Kritiker als auch das Publikum überzeugen. BERLINOIR ist ein Werk mit sehr düsteren Anleihen aus der Unterwelt, in dem Vampire die Stadt Berlin kontrollieren, eine Hommage an die Berliner Zwanziger und Dreißiger, an Otto Dix und George Grosz, aber auch an Fritz Lang’s „Metropolis“ (1926). Das Szenario stammt von Tobias O. Meißner, der mit Fantasyromanen wie DIE DÄMONEN bekannt wurde. BERLINOIR liegt nun erstmals komplett in einem Band (drei Episoden) vor und wird nicht nur die Fans der dunklen Seiten Berlins begeistern, sondern auch all jene, die die Achtziger miterlebten. Das Crossover zwischen Vampirgenre, Graphic Novel mit Kunstanspruch und Politaufarbeitung ist mehr als gelungen, die Atmosphäre dicht und spannend, verführerisch, düster und abenteuerlich, sie atmet die bedeutungsschwangere Luft ungelüfteter Varietès, Vaudevilles und anderer Etablissements, verquickt amerikanische Großstadtatmosphäre mit deutscher Untergangsstimmung, Titanic-Gefühl (1912) mit Einstürzende Neubauten-Ästhetik der 80er.